Tanz im eigenen Freespace – Ein Porträt über Avi Kaiser und Sergio Antonino

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Ein Porträt über Avi Kaiser und Sergio Antonino – zwei Tänzer, die Kontexte um Freiräume schaffen sich von ihnen umarmen lassen.

Avi Kaiser und Sergio Antonino tanzen überall. Nur nicht unbedingt in Tanzhäusern, auf Bühnen. Sie haben ihre ganz eigene Definition von Bühne, ihren ganz eigenen Anspruch an Präsenz, Ausdruck und Nähe. Sie interagieren, sie führen nicht vor. Sie treten in Kontakt, sie bieten nicht dar.

Der allererste ausschlaggebende Punkt, bevor sich ihre Körper bewegen, sie Figuren modellieren, ist die Frage nach dem Raum. Dem Ort. Es folgt die Betrachtung, ein Hineinfühlen. Es entstehen Ideen zu Raumlinien, die getanzt werden können, musikalische Begleitung flüstert noch tonlos im Kopf und hilft den Bewegungen, auf Spur zu kommen. Avi und Sergio treten in einigen verschiedenen Formaten auf, ihre Spezialität ist es, sich jeden, wirklich jeden Raum zu eigen machen zu können und ihn und die Menschen, die absichtlich oder versehentlich mit den Tanzbildern in Berührung kommen, im Kaufhaus, in der Fußgängerzone, im Park, im Treppenhaus, … zu berühren und zu verändern. Nachhaltig.

AT YOUR PLACE ist eine Performance in privaten Räumlichkeiten, in Wohnhäusern, Galerien oder Geschäftsräumen, nah an den Zuschauern. Für einen Abend wird der Gastgeber zum Theaterdirektor, er stellt Räume zur Verfügung, wählt die Art und die Anzahl der Gäste aus, schafft den äußeren Rahmen. Die Tänzer kommen, agieren in unmittelbarer Nähe zum Gastgeber und Zuschauer und alles verbindet sich miteinander. So ein Wohnraum beispielsweise verliert seine Intimität, wird automatisch von einem „Private Place“ zu einem „Public Place“. Die Gäste können sich nicht in die Anonymität der Dunkelheit auf den Rängen zurückziehen – sie hören die Atmung, haben unmittelbaren Blickkontakt mit den Tänzern, sehen die Schweißperlen und sind ein Teil der gesamten Performance.

Für sie ist es anstrengend, so nah dabei zu sein. Hundertprozentige Präsenz wird auch ihnen abverlangt, und während am Schluss mit dem Ausklang der tänzerischen Bewegungen die Anspannung bei Akteuren und Zuschauern gleichermaßen nachlässt, ist etwas Neues entstanden. Der private Raum ist nicht mehr der alte, die Musik, die angestrengte Atmung der Tänzer und die Bewegung wird in ihm gespeichert. Ebenso die zwischenmenschliche Beziehung: Nicht Applaus, Garderobe, Ausgang, sondern Innehalten, dankbare Blicke, Verwunderung über und Annahme dieser Intensität, angeregter Austausch und ein gemeinsamer Ausklang unter „neuen Freunden“ bei wohlverdienten Kaltgetränken. „Wir hatten immer den Wunsch, mit Menschen in Kontakt zu treten – aber das war bei herkömmlichen Performances auf Bühnen nicht möglich!“, erklärt Avi Kaiser (geb. 1954), beheimatet in Israel mit Zweitwohnsitz in Duisburg. Vor ca. 17 Jahren lernten er und der italienische Tänzer Sergio Antonino (geb. 1974) sich in Mailand an einer der großen Tanzakademien kennen – der Beginn einer intensiven Zusammenarbeit und einer großen, bis heute andauernden Liebe.

Seitdem leben und agieren die beiden zwischen den Grenzen, reisen viel, erobern sich die Freiräume, die sie zur Inspiration brauchen, sind mal hier, mal dort zu Hause, kommunizieren mit ihren Körpern und in vielen Sprachen. „Für uns ist das eine ständige In-Between-Situation: Wir sind ständig zwischen den Orten, zwischen den Leuten und den Aktionen. Dadurch wohnt allem, was wir tun, eine gewisse Dynamik inne. Die haucht dann vielen unserer Ideen Leben ein und gibt ihnen etwas Besonderes.“

Bei NON PLACE begeben sich die Tänzer an Unorte, an unbelebte Gebiete wie Autobahnkreuze, industriell genutzte Bereiche, in denen nicht unbedingt der Mensch der Maßstab ist. Diese Sessions sind mit Studien vergleichbar, Körper- und Bewegungsstudien: „Wie bewegt sich der tanzende Körper an diesem Unort? Was fühlt er? Welchen Rhythmus spürt er aus dem Verkehrslärm heraus, aus dem Windesrauschen, aus dem Klopfen der Stahlwerke?“

Dieses Spannungsfeld zwischen unmittelbarem Kontakt von Protagonisten und Zuschauern und wiederum der Performance im menschenleeren (wenn nicht gar menschenfeindlichen) Raum ist für die beiden Tänzer der Ausgangspunkt für viele ihrer Kreationen. Welchen Stellenwert hat der Begriff Schönheit für sie? Wie definieren sie den Begriff „Freespace“ für sich? Avi und Sergio fühlen sich Duisburg und damit der Metropole Ruhr sehr verbunden.

Die meisten Dinge hier sind nicht aus einem ästhetischen Anspruch heraus gebaut worden, sondern aus einer Funktion heraus. Und für sie ist der Umgang mit Industriebrachen einzigartig. Für sie sind die Stahltürme im Landschaftspark Duisburg-Nord Kathedralen. Ihnen und dem größten Teil ihrer bebauten Umgebung liegt eine Wahrhaftigkeit zugrunde, aus der die beiden Inspiration schöpfen. Denn wahrhaftig und schnörkellos ist auch das, was sie selbst machen. Es geht nicht um Schönheit. Sie nehmen einen öffentlichen Freiraum und machen ihn durch ihre Interaktion sich und den Zuschauern zu Eigen. Sie tanzen in privaten Räumen und öffnen sie.

Aus der Reihe:

FREIRAUM oder: Was verstellt ihren Blick?


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„Wir haben in uns selbst einen Raum, ein körperliches Volumen, das von unserer Haut umgeben ist. Wenn wir uns bewegen, dann verändern wir das uns umgebende Raumvolumen. Das ist die eigentliche Kunst: Etwas zu schaffen, das nicht unbedingt körperlich sichtbar ist, aber eben fühlbar. Räume werden zu Seismographen.“  Mit diesem Statement leiten die beiden Raumkünstler die Formulierung ihrer Freiraum-Gedanken ein. Größter, wichtigster Freiraum ist, sich ausdrücken zu können, zu dürfen. Es geht nicht um die Beantwortung von Fragen, sondern darum, seinen Geist zu öffnen. Ohne inneren Freiraum ist kein äußerer sichtbar.

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