Reproduktives Entwerfen – 8 Thesen

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Reproduktives Entwerfen

An beständigen Werten festzuhalten kann auch innovativ sein.

Was heißt Beständigkeit in der Architektur?

In welchem Bereich impliziert der Begriff etwas Positives, in welchem etwas Starres? Das Wort wiegt schwer, klingt ermahnend, ein bisschen nach Stillstand, aber auch nach wertvoller Kontinuität. Ist Architektur – ein Gebäude – beständig, solange es unverändert besteht?

Mit wie vielen Eingriffen verliert es die Beständigkeit?

Wann wird es zu einem Spielball der Geschmäcker, wann zu einem Beleg des bewegten Lebens?

Besteht ein Gebäude auch über seine dingliche Existenz hinaus noch weiter, weil ja die Geschichten, die dort geschrieben, die Kinder, die in ihnen geboren wurden, die graue Energie, die in ihnen steckte, noch kursieren?

„Einige immer wiederkehrende Fragen und Formen haben Bestand. Denn diese haben sich bewährt unter sich wandelnden Bedingungen. Wir meinen, dass ihnen dadurch eine über die Zeit hinaus gegebene Qualität innewohnt.“

So sprechen vier Architekten, die 2014 anfingen, sich mit genau dieser Thematik zu befassen. Georg Ebbing, Moritz Henkel, Ulrich von Ey und Philipp Rentschler nennen ihr neues theoretisches Betätigungsfeld von da an „Reproduktives Entwerfen“. Sie alle sind als freischaffende Architekten in eigenen Büros und in der Lehre tätig. Mit dem Begriff des „Reproduktiven Entwerfens“ verbinden sie für die architektonische Arbeit die Vorstellung von einer kontinuierlichen Wiederholung sowie eine stetige Erneuerung des Vorhandenen. Diesen Zusammenschluss nahmen sie zum Anlass, ein Manifest zu verfassen, in dem sie acht Thesen aufstellten, die ihre architektonischen Werte, Verantwortungen und Aufgaben in Worte kleideten. Anlass, sich überhaupt damit zu beschäftigen, war der international offene Wettbewerb „Neues Wohnen auf historischen Parzellen im UNESCO-Welterbe in Lübeck“ Ende 2014. Drei unterschiedlich breite Stadthäuser sollten entworfen werden. Den vieren war klar, dass trotz der zahlreichen gestalterischen Vorgaben sehr viele Arbeiten mit besonders extravaganten formalen Lösungen dabei sein würden – ihnen wiederum kam genau das Gegenteilige in den Sinn. Sie recherchierten historische Wettbewerbe und wurden schließlich im Architekturmuseum Berlin fündig: ein Wettbewerb von 1901 mit fast identischer Aufgabenstellung unter dem Titel „Fassaden für Lübeck“. Sie druckten die damals eingereichten und teils prämierten Arbeiten aus, zeichneten sie durch, passten sie maßstäblich an, erhielten aber grundsätzlich ihren Charakter.

BerührungsPUNKTE ist auf der Grundlage ihrer Thesen mit ihnen in den Dialog getreten – herausgekommen ist ein ausschweifendes Für und Wider, ein unterhaltsames und manchmal augenzwinkerndes Bestätigen und Erklären.

Reproduktives Entwerfen

1. THESE Wir sind es leid, immer wieder neu anzufangen!

BerührungsPUNKTE: Kann man verstehen! Der Wunsch nach einem geschützten Raum, einem bewussten Bezug nach draußen, einer Antwort auf den Ort / die Umgebung / die Nachbarschaft, die Forderung nach einem identitätsstiftenden Gebäude, waren immer gleich stark. Also: Ja, es muss nicht immer wieder neu angefangen werden. Ja, es darf angeschaut, übersetzt, optimiert, angepasst werden.

Reproduktives Entwerfen: Ganz offensichtlich befindet sich die gebaute Welt in einem kontinuierlichen Wandel, der nun allerdings auch ganz offensichtlich davon geprägt ist, dass unglaublich viele Motive / Gestalten / Formen – wie wir meinen, zu Recht – immer wieder auftauchen und sich wiederholen. Der revolutionäre Impetus gewisser Strömungen ist uns absolut fremd und die Suche und die konkrete Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen / Reproduzierbaren, treten konsequent an die Stelle des eigenen Entwurfs.

2. THESE Alles Vorhandene ist reproduzierbar!

BeP: Natürlich! Und wenn vielleicht als oberste Maxime die Qualität, der (substanzielle oder auch ideelle) Wert steht, dann spricht nichts dagegen. Sobald es allerdings unreflektiert, unangemessen, verfälscht und damit nicht mehr werterhaltend reproduziert wird, sollte Abstand von dem Möglichen genommen werden. Dass alles reproduzierbar ist, ist unzweifelhaft – stellt sich nur die Frage, was denn alles so reproduziert werden soll. Wie werden Grenzen definiert, an welcher Lehre, an was orientieren sich Anspruch und Korrektiv? Wie wird „gut“ und „schlecht“ beurteilt, „sinnhaft“ und „sinnlos“?

Repro: Zum einen wählen wir von Aufgabe zu Aufgabe im Sinne der Angemessenheit das aus unserer Sicht Richtige und Falsche aus. Wir entscheiden auf der Grundlage unserer Erfahrungen, genauso wie vor dem Hintergrund unserer Vorlieben. Und natürlich gehört es auch dazu, jedes Mal zu schauen, wo und auf welche Weise solch eine Aufgabe schon mal gut gelöst worden ist. Unsere Vorlieben lassen sich nicht bis ins Letzte erklären, aber sie hängen unter anderem mit unseren persönlichen Erfahrungen zusammen. Dabei geht es nicht um eine esoterische Verklärung der Vergangenheit, sondern eher um ein Sich-in-Erinnerung-Rufen, in welchen architektonischen Situationen, welchen Atmosphären man sich wohlgefühlt hat. Man kann gut funktionierende Räumlichkeiten, Häuser und Situationen aufgrund von bestimmten architektonischen Kriterien und Merkmalen beschreiben und benennen – daher das Festhalten an gut funktionierenden Vorbildern. Außerdem verbindet uns alle der Glaube an bestimmte Prinzipien, die sich über Jahre und Jahrhunderte bewährt haben. Die Tauglichkeit dieser Prinzipien, die eben auch in den alltäglichen Bauwerken zutage treten, bestimmt viele unserer Entscheidungen.

3. THESE Es gibt weder formale noch stilistische Tabus!

BeP: Das ist die Frage. So alleine hinkt der Satz und die Rechtfertigung für die leider weit verbreitete charakter- und konturlose Architektur, mit der sich unsere Städte und Industriegebiete, Wohnsiedlungen und Vororte präsentieren. Bedarf es nicht einer Einschränkung, eines Korrektivs?

Repro: Wir nähern uns grundsätzlich zunächst mit einer großen Sympathie und Zuneigung der Stadt und vielem Vorhandenen. Das Neue als Neues spielt für uns keine Rolle – es hat an sich keinen eigenen Wert. Es geht um die Gesamtheit des Vorbildes, es geht um Regeln, aber auch um spezifische Charakteristika.

BeP: Wenn alles möglich ist, es keine Tabus gibt … woher kommen dann jetzt die Regeln?

Repro: Aus unserer Sicht wird es immer problematisch, wenn eine Formensprache einen Alleinvertretungsanspruch erhebt. Für uns ist dieser Satz deswegen so wichtig, weil wir damit die für uns notwendige entideologisierte architektonische Freiheit einfordern. Für eine echte Stadt ist Vielfalt etwas Wesentliches. Für uns nehmen wir in Anspruch, dass wir heute eine Säule genauso gut und schön und angemessen finden können wie eine ganz alltägliche Situation eines Hinterhofes. Wir möchten die Dinge auf keinen Fall gegeneinander ausspielen. Natürlich sind wir uns bewusst, dass es Regeln geben muss, aber der Begriff des Tabus impliziert die Setzung durch eine höhere Macht. Tabus sind nicht hilfreich. Denn damit würden wir uns schon a priori in ein Entweder-Oder begeben und uns zahlreicher verlockender Möglichkeiten berauben.

4. THESE Reproduktives Entwerfen funktioniert in jedem Maßstab und an jedem Ort!

BeP: Stimmt, in der Kunst, im Objektdesign … In der Musik in gewissem Maße auch, beim Kochen ohnehin … Filme zitieren einander und Fotografien bilden existierendes Dingliches ab. In der Architektur kann ich in allen Maßstäben Vorbilder finden, derer ich mich bedienen kann!

Repro: Genau! Wichtig ist dabei jedoch, dass wir uns mit unserer Architektur auf andere Architekturen beziehen. Jeder Ort hat in irgendeiner Form eine Geschichte, gebaut oder nicht. Aber auch jede Aufgabe hat eine eigene Historie. Durch das „Reproduktive Entwerfen“ versuchen wir uns auf jeder Maßstabsebene das Handwerkszeug, die Sprache der Architektur, wieder anzueignen – in der Hoffnung, ebenso angemessen auf ganz unterschiedliche Dimensionen und Situationen reagieren zu können.

Reproduktives Entwerfen

5. THESE Das Vorhandene wird nachempfunden, nicht kopiert!

BeP: Tja … und wer definiert, wann etwas nachempfundenund wann etwas kopiert wurde? Wann etwas weitergedacht, exzellent übernommen oder aber verfälscht wurde und damit falsch ist? All das ist doch (leider) Auslegungssache!

Repro: Das Kopieren ist unmittelbar und unreflektierter. Wenn etwas, ohne genauestens hingeschaut zu haben, abstrahiert oder konzeptionell reduziert wird, dann entsteht eine Verfälschung, der wir die architektonische Qualität absprechen würden. Man muss die Gesamtheit – Stimmung, Material und Atmosphäre – mitberücksichtigen (neben den handwerklichen und konstruktiven Bedingungen). Wir definieren diese These innerhalb unseres persönlichen Aktionsradius. Bezogen auf ein konkretes Projekt bestimmt der, der entwirft, auf Basis einer Gesetzgebung, in Abstimmung mit dem Auftraggeber, in Bezug auf den öffentlichen / kulturellen Diskurs die architektonische Richtung. Wir haben den Anspruch, in unserem Wirkungskreis, unseren Architekturbüros und unserer Lehrverantwortung komplexe Prozesse in Gang zu setzen. Das äußerlich Vorhandene durchläuft das eigene Vorhandene (unser Inneres) und verändert sich und uns selbst. Selbst wenn es im Ergebnis identisch erscheint, ist es doch nicht dasselbe! Daher die Unterscheidung zwischen Kopieren und Nachempfinden. Es gibt einen Unterschied im Maß der Bewusstheit.

6. THESE Alles Vorhandene bleibt im Neuen stets erkennbar!

BeP: Woher nimmt man die Gewissheit, dass bei dem einen Projekt eine Reproduktion in eurem Sinne die beste Möglichkeit wäre und bei einem anderen eben eine stärkere Abstraktion genau richtig wäre?

Repro: Die scheinbare und auch manches Mal nur zeitlich begrenzte Gewissheit entsteht eher aus der Situation heraus, und vor allem prüfen wir dies erst vor dem Hintergrund der Dinge, die wir zu diesem Ort, an diesem Ort und über diesen Ort und die Art der Aufgabe gefunden haben. Unser Maßstab ist immer wieder die angemessene Wirkung und die gewollte Atmosphäre sowie die Einfügung in den vorhandenen Kontext. Selten macht es Sinn, in formaler, materieller, atmosphärischer oder auch historischer Hinsicht gegen den bestehenden Ort zu arbeiten.

 

7. THESE Die Qualitäten des Vorhandenen werden offengelegt, vermehrt und behalten ihren Platz in der Welt!

BeP: Das klingt schon fast nach allgemeingültiger Gebrauchsanweisung als nach These – zu Recht! Der Akt des Offenlegens inkludiert, dass sich Zeit genommen wird, dass ein Blick riskiert, eine Beobachtung vorgenommen, Gedanken- und Herzensarbeit geleistet werden und dadurch eine gewisse Qualitätssicherung. Wenn man so weit ist, dass man diese These bejaht, ist grundsätzlich der richtige Weg eingeschlagen. Eine differenzierte und reflektorische Betrachtung – das Arbeiten mit den gedanklichen Ergebnissen und Erkenntnissen sollte wohl zu etwas führen, das vielleicht nicht allen gefällt, aber zumindest über Ansätze verfügt, die dem jeweiligen Projekt eine Existenzberechtigung verleihen.

Repro: Ja, genau. Und wenn wir zu diesem Schluss gekommen sind, wollen wir diese Qualitäten durch Bezug, durch Reproduktion, natürlich in der Welt halten und vermehren. Denn mit solch einer Erkenntnis ist verbunden, dass es Dinge gibt, die gut „funktionieren“, und Dinge, die weniger gut „funktionieren“! Dieses Funktionieren kann natürlich in einer funktionalen Hinsicht genauso gesehen werden wie auf der Ebene der Empfindungen, der Atmosphären oder der Erinnerungen. Denn den Formen kommen ja nicht nur Bedeutungen, sondern eben auch Empfindungen und Erinnerungen zu.

Reproduktives Entwerfen

8. THESE Wer das Vorhandene nutzt und Respekt vor den Gedanken und Werken unserer Vorfahren hat, entwirft reproduktiv!

BeP: Dann tut es jeder! Nichts ist nur es selbst. Durch die Mannigfaltigkeit an Bildern, Gegenständen, Worten, ihren Bedeutungen und Assoziationen, die in heutiger Zeit in jeder Sekunde eine weitere Bedeutung annehmen, eine Assoziation wecken, Erinnerungen aufwärmen, ist nichts mehr nur das, was es ist. Somit wird sich in jedem kreativen Prozess eines Gedanken oder Werkes etwas Vorangegangenen bedient. Immer.

Repro: Aber das ist zu beliebig. Wichtig ist die Verständigung auf etwas konkret Benennbares und Vorzeigbares, um daran Qualitäten und Fehler zu besprechen. Es geht um das Darstellen und Zeigen des konkreten Vorbilds. Uns ist es wichtig, mit jedem „neuen“ Entwurf auch sein Vorbild abzubilden. Wir reproduzieren ganz offensichtlich. Das ist Teil unserer Wahrhaftigkeit, das erscheint uns angemessen!

Diesen Dialog hätten alle Beteiligten noch sehr gern weitergeführt, indem immer wieder neue Assoziationskettenin Gang gesetzt, Widersprüche entlarvt oder Grundsätzliches für wichtig befunden worden wären. Das überstiege leider die Kapazitäten dieses Magazins. Aber: Vor dem Hintergrund ihrer Publikationen, dieser verschriftlichten Aussagen und ihrer Tätigkeiten als Architekten und Lehrende beschäftigen sich Georg Ebbing, Moritz Henkel, Ulrich von Ey und Philipp Rentschler natürlich weiter mit dieser streitbaren, aber vor allem streitwerten Thematik. Sie sind weiterhin auf der Suche und nehmen auf keinen Fall einfach hin – nur um des Seelenfriedens willen. Sie werden weiter forschen und fragen:

  • Wie kommen wir weg von einer allzu großen Beliebigkeit, die oftmals in der willkürlichen Suche nach etwas Neuem liegt?
  • Welche architektonischen Wirkungen sind der jeweiligen Aufgabe angemessen in Bezug auf den Charakter des Gebäudes, seiner erzählerischen, aber auch atmosphärischen Kraft?
  • Welche architektonischen Mittel und Elemente haben wir, um diese Wirkungen zu erzeugen und um welchen Charakter zu evozieren?
  • Wie schaffen wir in ganz unterschiedlichen Situationen einen angemessenen Umgang mit den vorhandenen Dingen?
  • Wir werden es beobachten und uns durch ihre Thesen vielleicht ein wenig entschleunigen lassen während der alltäglichen Hetze nach Neuerem, Wichtigerem und Besserem. Die vier Architekten jedenfalls haben mit ihrer Haltung nur das Beste im Sinn. Ihre Aktivitäten in der Praxis bieten in Kombination mit ihren Lehrtätigkeiten ein breites Fundament für ihr reproduktives Schaffen rund um die Königsdisziplin und ihre Künste.

Das Manifest: als Download unter www.reproduktives-entwerfen.de

Bilder © Archiv Reproduktives Entwerfen;
Marokkanischer Brunnen: Wikimedia commons – File: Superkilen3.jpg

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