Rendezvous mit der Antike

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Wussten Sie, dass Denim eigentlich eine Erfindung aus dem südfranzösischen Städtchen Nîmes ist? Die verkürzte amerikanische Form der französischen Bezeichnung erlangte über die Jeans von Levi Strauss Berühmtheit. Dass sie für „Serge de Nîmes“ steht, einen robusten Baumwollstoff aus der französischen Provinz, weiß kaum jemand.

Gebäude mit einer Fassade die das Sonnenlicht spiegelt

Nîmes: Römische Geschichte auf Schritt und Tritt

Im Zentrum von Nîmes thront ein restaurierter römischer Tempel (Maison Carrée), dem gegenüber steht das von Norman Foster entworfene Carré d’Art, das ein Museum für moderne Kunst und eine Bibliothek beherbergt. Ganz in der Nähe befinden sich das römische Stadttor „Porte d’Auguste“ sowie das Castellum, das als Wasserverteiler diente. Erhalten ist nur ein einziges vergleichbares

Castellum in Pompeji. In der weitläufigen Parkanlage „Jardins de la Fontaine“ ragt der Tour Magne – ursprünglich in vorrömischer Zeit erbaut, aber in der römischen Epoche zum Wehrturm umgebaut – in die Höhe. Ein weiteres römisches Bauwerk im Park ist der Diana-Tempel. Angesichts dieser Ballung an römischen Bauwerken verwundert es nicht, dass jährlich im April ein ganzes Wochenende lang römische Legionäre, kaiserlicher Hofstaat, Reiter und Kampfwagen die Stadt in Beschlag nehmen und die antike Zeit nachstellen – dafür reisen über 500 Darsteller aus Frankreich, Italien und

Deutschland an. Hauptaustragungsort ist das Amphitheater, das bis zu 24.000 Menschen Platz bietet. Und auch in der Innenstadt finden kostümierte Umzüge, Museumsführungen und vieles mehr statt.

Die Architektin Elizabeth de Portzamparc

Als Architektin und Urbanistin entwirft Elizabeth de Portzamparc Gebäude als architektonische Symbole und als kraftvolle urbane Wahrzeichen, die die Orte, an denen sie errichtet wurden, gekonnt strukturieren. Ihre Architektur soll stimulierende lokale Räume schaffen, die die Lebensqualität der Nutzer verbessern. Ihre Gebäude unterstreichen die Qualitäten des jeweiligen Kontextes, in den sie eingefügt werden, und treten in einen Dialog mit der urbanen Umgebung. Dabei ist ihre Architektur meist nüchtern, leicht und stromlinienförmig sowie sparsam in Bezug auf Formen und Materialien. Ihr Ansatz kombiniert die Anforderungen des sozialen, urbanen und ökologischen Bereichs mit der Konstruktion optimaler Formen. 

Neben Architekten, Stadtplanern und Bühnenbildnern arbeitet in ihrem Büro ein interdisziplinäres Team, das sich auf die Analyse von Umwelt- und Sozialfragen spezialisiert hat. Sie forscht seit Jahrzehnten zu Identität von Orten, Gemeinschaftsleben und territorialen Verbindungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Reflexion über den Aufbau von Metropolen. In diesem Rahmen hat sie bereits wegweisende Vorschläge für gemischte Nutzungen und nachhaltiges, flexibles Wohnen gemacht.

Römermuseum in Nîmes

Auch die Bedeutung der Stadt in römischer Zeit war um einiges größer als ihr heutiger Stellenwert, waren doch ihre antiken Befestigungsanlagen mit einer Länge von sieben Kilometern die mächtigsten in ganz Gallien – und die römische Stadt, damals noch unter dem Namen „Colonia Nemausus“ bekannt, gut viermal so groß wie das mittelalterliche Nîmes. Ihre bedeutendsten römischen Bauten stammen aus der Herrscherzeit Agrippas, Schwiegersohn des Kaisers Augustus, der 27 vor Christus der Ansiedlung zum Status Colonia verhalf. Seit 2018 lässt sich die römische Geschichte im neuen Römermuseum nachvollziehen, das sich in unmittelbarer Nähe des gut erhaltenen Amphitheaters befindet – eine architektonische Begegnung der besonderen Art …

Das neue Museum, entworfen von der Architektin Elizabeth de Portzamparc und ihrem Büro 2Portzam-parc, kontrastiert mit dem römischen Baudenkmal und erzeugt gleichzeitig eine Torsituation zum dahinterliegenden Gebäudeblock durch einen kunstvoll angelegten Museumsgarten. Dieser 3.500 Quadratmeter große Patio wurde durch den Landschaftsarchitekten Régis Guignard gestaltet. Er hat auf drei Ebenen charakteristische Pflanzen aus drei Epochen angeordnet – der gallischen, der römischen und der mittelalterlichen. Von einer teilbegrünten Dachterrasse aus eröffnet sich ein fantastischer Panoramablick über die Altstadt und die Bauwerke aus römischer Zeit.

Blick auf ein Amphitheater

Die Architektur selbst ist um das 17 Meter hohe Atrium mit Doppelhelix-Wendeltreppe und die Rekonstruktion eines antiken Brunnens angeordnet. Um diesen Innenhof herum gruppieren sich die Ausstellungsflächen auf drei raffiniert verzahnten Museumsetagen, auf denen allein die Dauerausstellung gut 5.000 Exponate umfasst, anhand derer Gäste eine Zeitreise durch 25 Jahrhunderte machen können. Digitale Rekonstruktionen von Gebäuden und ganzen Arealen unterstützen das Erlebnis. Drei weiß hinterleuchtete „Wissensboxen“ zeigen zusätzlich historische Zusammenhänge auf Monitoren und Zeitstrahlen. Den Besuchern eröffnen sich von den Ausstellungsräumen aus immer wieder Ausblicke nach draußen, vor allem auf das römische Amphitheater.

Die Fassade des Museums mit ihrer vorgehängten Glashülle aus 7.000 opaken, siebbedruckten Glasquadraten ist laut Elizabeth de Portzamparc vom Faltenwurf einer römischen Toga inspiriert und soll damit im Kontrast zur Rigorosität des römischen Denkmals stehen. Fällt das Licht günstig durch die Leichtigkeit suggerierenden Glasplättchen, wird zuweilen die tragende Stahlunterkonstruktion sichtbar. Auch lassen die „Toga-Falten“ hin und wieder Einblicke ins Innere zu, da einige von ihnen transparent verglast sind. Aufgrund seiner modernen Architektur wird das Gebäude in Nîmes durchaus kontrovers diskutiert.

Vogelperspektive von einem Stadtplan

Das neue Römermuseum in Nîmes wurde im Juni 2018 eröffnet. Wir sprachen mit seiner Architektin Elizabeth de Portzamparc über ihre Gedanken zum „Musée de la Romanité“, über die Entwicklung seines speziellen Baustils und über aktuelle Projekte.

 

Frau de Portzamparc, welches Museum haben Sie zuletzt besucht?

Das Neue Museum in Berlin. Hier findet ein interessanter Dialog zwischen der Erinnerung an das frühere Gebäude und dem zeitgenössischen Projekt statt – für ein historisches Museum sehr passend.

 

Was muss ein guter Museumsbau Ihrer Meinung nach leisten?

Er muss sich für das Fachgebiet und die Inhalte eignen: Als Einrichtung muss das Gebäude für die Öffentlichkeit innerhalb der Stadt zugänglich sein. Darüber hinaus muss es sich durch die Qualität der Beziehung zwischen den ausgestellten Kunstwerken und der Öffentlichkeit auszeichnen.

 

Unser Magazin dreht sich um das Thema „Begegnung“ – wie würden Sie die Begegnung des Musée de la Romanité mit dem antiken Amphitheater beschreiben?

In diesem urbanen Raum habe ich eine komplementäre Beziehung zwischen den beiden Architekturen hergestellt. Ohne irgendeine Anlehnung an die alte Architektur erlaubt die Gegenüberstellung jedem Gebäude seine Freiheit und seine eigene Modernität ohne Rivalität. Der Kontrast schafft eine architektonische Spannung zwischen zwei Architekturen, die die Umgebung aufwertet. Auf diese Weise wird ein Dialog durch Komplementarität etabliert.

 

Wie war die Aufgabenstellung der Stadt?

Der Auftrag der Stadt Nîmes kann in vier Teilaufgaben unterteilt werden. Zunächst musste das Museum an einem bestimmten Ort, dem „Grünen Block“, vor dem alten Amphitheater errichtet werden. Zweitens musste das Gebäude einen zeitgenössischen Dialog mit dem Amphitheater aufnehmen. Drittens war sehr wichtig, dass das Museum als urbaner Raum und nicht als isoliertes Gebäude definiert wird, das heißt, es musste offen für die Stadt sein. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, die „innere Straße“ und den archäologischen Garten zu schaffen, was die ursprüngliche Aufgabenstellung nicht beinhaltete. Der Kern des Auftrags war schließlich der Bau eines neuen Museums für die Sammlung des Archäologischen Museums, die im alten Gebäude unter mangelnder Sichtbarkeit litt. Nach einigen archäologischen Ausgrabungen am Boulevard Jaurès wurden viele neue römische Domus (Stadthäuser) und Mosaike freigelegt, die einen neuen Platz verdienten.

Digitale Zeichnung eines Gebäudes

Wie begegneten Sie diesem Ort erstmalig, als Ihnen die Entwurfsaufgabe bekannt war?

Unmittelbar nach der Bekanntgabe der Vorfinalisten für den Wettbewerb und ohne auf eine Stellungnahme seitens der Stadt warten zu wollen, bin ich nach Nîmes gefahren, um den Standort zu erforschen. Zu diesem Zeitpunkt war die Lage des zukünftigen Museums bekannt, genau wie seine drei Hauptmerkmale: Ausstellungsräume, ein archäologischer Garten und ein Verwaltungsgebäude. Mehr brauchte ich nicht, um die Arbeit fortzusetzen – vor allem nicht mit einem solch weltberühmten Ort als Ausgangspunkt inklusive eines Monuments mit starker, evokativer Kraft. Das römische Amphitheater bietet offen seinen Reichtum an, seine elliptische Arkadenfolge, die immer wieder mit ihrer Dynamik, ihrer Modernität und ihrer Frechheit überrascht. Angesichts dieses extremen Reichtums war es aber auch notwendig, sich von ihm fernzuhalten und meiner Phantasie freien Lauf zu lassen, um einen für das Museum spezifischen, zeitgenössischen Baustil zu schaffen.

 

Welchen Stellenwert hat der Begriff Begegnung in Ihrem Museum?

Alle meine Arbeiten basieren auf dem Prinzip einer „Architektur der Verbindungen“ zwischen einem Gebäude und seiner äußeren und inneren Umgebung. Dazu zählen historische, geografische, räumliche, soziologische, kulturelle, symbolische, morphologische, sensorische und viele weitere Verbindungen. Ihre materielle und konzeptionelle Umsetzung zeigt jedes architektonische Element des Musée de la Romanité: die Fassade, die Stadt und Himmel widerspiegelt, das Atrium, der räumliche Kern des Museums, der den städtischen öffentlichen Raum erweitert, der Museumsgarten und die Ausstellung, die sich von der Esplanade des Amphitheaters bis zum Dach des Museumsgebäudes erstreckt.

 

Welcher (berühmten) Person würden Sie gern einmal in Ihrem Museum über den Weg laufen?

Claude Levi Strauss, oder wenn ich realistischer sein muss: Philippe Descola.

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BEGEGNUNG [#36] oder: Was könnte Sie treffen?


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Die Dachterrasse hatten Sie nicht vorgesehen – wieso haben Sie sie hinzugefügt?

Um dem Anspruch eines zeitgenössischen Architekturstils gerecht zu werden, habe ich versucht zu ermitteln, was seine grundlegenden Merkmale sein könnten. Angesichts der Massivität des Amphitheaters und seiner starken Verankerung am Boden als Ausdruck der terrestri-schen Anziehungskraft habe ich verstanden, dass das Merkmal, das zeitgenössische Architektur wahrscheinlich am besten definiert, die Befreiung von Volumen ist – ermöglicht durch moderne Technologien. 

Das Ziel bei zeitgenössischer Architektur ist, sie von den Beschränkungen der Schwerkraft und des Bodens zu befreien. Von da an war ich überzeugt, dass das Museumsgebäude dieses Streben nach Leichtigkeit ausdrücken musste – bis es über der Esplanade zu schweben schien. Während meiner ersten Skizzenarbeiten und Wanderungen in der Stadt erkannte ich jedoch die Notwendigkeit, dem Museum einen begehbaren Dachgarten zur Verfügung zu stellen – ein Raum, der im ursprünglichen Programm nicht vorgesehen war. In Nîmes ist der Tour Magne der wichtigste Anlaufpunkt für Panoramaaussichten. Er bietet einen Blick über die gesamte Stadt, insbesondere auf das Museum. Hier wurde deutlich, dass es notwendig war, auch das Museum zu einem Aussichtspunkt zu machen, der mit dem Turm in Verbindung steht und von dem aus das gesamte Erbe von Nîmes sichtbar ist. Um unserem Prinzip der „Architektur der Verbindungen“ vollständig gerecht zu werden und dem Bedürfnis nach einem offenen Museum zu entsprechen, haben wir uns entschlossen, die Dachterrasse frei zugänglich zu machen – auch für Menschen, die keine Museumsbesucher sind.

 

Wie sehen Sie Ihren Bau im Kontext mit den antiken und modernen Bauwerken in unmittelbarer Nachbarschaft?

Es musste ein sehr zeitgemäßes Gebäude entworfen werden, um römische Sammlungen gegenüber dem Amphitheater unterzubringen. Ein Gebäude, das die Landschaft der Stadt prägt und der unmittelbaren Nachbarschaft würdig ist. Die Gegenüberstellung von alter und zeitgenössischer Architektur und damit die Erschaffung von Kontrasten innerhalb der Landschaft ist eine Besonderheit der Kulturpolitik der Stadt Nîmes. Die Stadt fördert die Vision eines lebendigen Erbes von der Antike bis heute, eines Erbes, dessen Modernität jedes Mal wachgerufen wird, wenn ein neues architektonisches Objekt entsteht. Da ich aus einem Land der Gegensätze – Brasilien – komme, habe ich mich nicht von der Aufgabe einschüchtern lassen, einen Dialog zwischen zwei Gebäuden zu schaffen, die durch zwanzig Jahrhunderte Architekturgeschichte getrennt sind. Im Gegenteil, es war eine äußerst anregende Perspektive, eine wunderbare Herausforderung für Architekten, der ich mich ohne zu zögern stellen wollte.

Museum von Innen fotografiert mit einer Brücke die in einen Raum führt. Große Steine sind an einer Wand befestigt.
Die Ausstellungsflächen liegen auf drei raffiniert verzahnten Museumsetagen.

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Ich arbeite momentan unter anderem an der Science Hall der Zhangjang Science City in Pudong (China). Der Standort ist Teil des Shangai-Park-Projekts, das die Ringstraße der Stadt mit einem grünen Ring restrukturieren will. In Taichung (Taiwan) arbeite ich am Taichung Intelligence Operations Center. Es wurde als nachhaltiges, urbanes, menschliches Nachbarschaftsprojekt konzipiert, in dem Tausende von Menschen leben werden. Als Nächstes bereite ich mich auf den 27. Weltkongress der International Union of Architects im Juli 2020 in Rio vor, für den ich Mitglied des Ehrenkomitees bin. Urbanisten, Ingenieure, Architekten und politische Entscheidungsträger aus der ganzen Welt werden sich treffen, um über die Kreation von sozialem Lebensraum zu diskutieren und Vorschläge für die Zukunft der Städte zu formulieren. Außerdem arbeite ich an einem neuen Buch, das sich auf 18 meiner Projekte seit den 90er-Jahren konzentriert.

 

Fotos: Serge Urvoy, 2Portzamparc (Renderings), benkrut / istockphoto 

www.elizabethdeportzamparc.com

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