Er nähert sich der kleinen Insel, betritt sie, als müsste er sie zähmen, als könnte er mit einer Reaktion auf sein Eindringen rechnen. Im Laufe des Films „Die Maisinsel“ baut er gemeinsam mit seiner 16-jährigen Enkelin Asida eine kleine, bescheidene Hütte, befestigt das Ufer, bestellt das Land, hütet seine Aussaat und erntet schließlich unter zerstörerischen Regenfällen seinen Mais. Die Hütte bietet Schutz vor Sonne, Regen und Eindringlingen, der frisch gefangene Fisch aus dem Fluss bietet gegrillt oder getrocknet die Lebensgrundlage für den Aufenthalt auf diesem Fleckchen Erde.
Was braucht ein Mensch heute zum Leben? Woraus besteht die Minimalausstattung für ein Dasein, das nicht von Armut, sondern von verantwortungsvollem Konsum, vielleicht Verzicht, aber vor allem einem klaren Bewusstsein geprägt ist? Und woher kommt bei all dem Überfluss, der uns umgibt, bei all den Möglichkeiten, die wir (die meisten von uns) haben – woher kommt die Sehnsucht nach Einfachheit? Nach weniger Auswahl, dafür reinerer Qualität? Nach minimierten, aber vielleicht wirklich relevanten Optionen?
Was Asida und ihr Großvater auf dieser kleinen Insel machen, hat natürlich nichts mit unserem Drang nach Auszeiten an einfachen, mitten in der Natur befindlichen Orten zu tun. Sie leben in armen Verhältnissen, ihre minimalistische Lebensweise ist ihrer Lebenssituation geschuldet und sicher nicht frei gewählt. Dennoch entstehen innerhalb der sehr wortkargen Geschichte Momente, nach denen sich heute viele Menschen sehnen. Das Leben im Einklang mit der Natur – ganz gleich ob Hotel der Extraklasse mit Minimalkonzept oder das Hüttchen in den Bergen mit karierter Bettwäsche … Die Sehnsucht nach Einfachheit, nach wenig Auswahl, nach vielleicht nur einer, aber dafür der köstlichsten Sorte frischem Ziegenkäse mit einem Laib Brot, frisches Quellwasser aus der Tonkaraffe und einem gebrannten Kurzen, der einem die Röte ins Gesicht treibt, wächst stetig.
Dieses minimale Leben – egal ob auf einem Boot, im Zelt, auf dem Jakobsweg, in der Strand- oder Berghütte – bietet einen solch großen Kontrast zu unserem „normalen“ Leben, dass doch die etwas unangenehme Frage aufkommt, warum wir es nicht schaffen, unser normales Leben auf ein für uns ganz individuell angenehmes Minimum zu reduzieren. Minimalismus wird uns nicht aufgezwungen durch Krieg, Flucht, Hungersnot … Wir dürfen ganz allein entscheiden, auf was wir verzichten, welchen Überfluss wir abstellen möchten. Eventuell sorgen die wachsenden Müllberge und die Verschmutzung der Weltmeere partiell dafür, weniger Müll zu produzieren; vielleicht führt das Wissen um die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen derjenigen, die unsere Massenware-Klamotten herstellen, oder die Tatsache, dass die Weltbevölkerung weiter wachsen wird und wir mit unseren Ressourcen sparsamer umgehen müssen, zu einem schlechten Gewissen – und vielleicht wird das so stark, dass der Einzelne tatsächlich etwas ändert.
Welche Geister treiben uns dazu, den Kleiderschrank immer voller, die Einrichtung immer vollständiger werden zu lassen, die Kühltruhe zum Bersten zu bringen und einen Tag inhaltlich auf gefühlte 30 Stunden zu strecken? Die Geister der Möglichkeiten. Weil die Ideen und die finanziellen Mittel (ganz gleich ob geringe oder immense) einfach da sind. Die Geister, die nicht entschleunigen, hinterfragen, was das wirkliche Bedürfnis ist, sondern weitertreiben. Mehr arbeiten, mehr Geld verdienen, mehr kaufen, sich mehr kümmern müssen, sich um das Eigentum sorgen, noch mehr arbeiten, absichern, sehr gestresst sein und schließlich für eventuell sehr viel hart erarbeitetes Geld einen ganz minimalistischen Basic-Kurz-Urlaub auf einer Alm in den Bergen machen oder in einem Hüttchen am Fluss, dessen Wasser das einzige ist, das fließt und dessen Plätschern in den Schlaf singt. Verrückte Welt.
Zwar langsam, aber spürbar. Schaut man sich unter den Büchern zu dem Thema um, gibt es eine nie dagewesene Vielfalt. Ratgeber im Internet und in Blogforen beraten und motivieren hinsichtlich der Minimierung der Lebenskomponenten und verweisen auf den Mehrwert des reduzierten Ballasts. Ganz gleich ob minimale Raumgröße mit multifunktionaler Einrichtung, ob minimale Möblierung, minimal ausgestatteter Kleiderschrank, minimale Hausabfallproduktion, minimaler Einsatz gekaufter (Hygiene-)Artikel, verpackungsfreie Supermärkte – Konzepte und Ideen hierzu gibt es ohne Ende, ebenso wie Menschen, die sich dieser „Bewegung“ anschließen.
Um diesen Begriff kommt man im Zusammenhang mit Minimalismus nicht herum. Reduzierung des Kleiderschrank-Inhalts auf ein Minimum – und zwar auf ein Lieblingsminimum. Es gibt verschiedenste Ansätze – je nachdem, wie das individuelle Ziel lautet. Auch die Wege dorthin unterscheiden sich. Generell bietet die Stückzahl 37 an Kleidungsstücken pro Saison eine grundsätzliche Orientierung. Wichtig ist das mengenmäßig spürbare Aussortieren von Kleidung, die nicht richtig gefällt, nicht passt, länger nicht getragen wurde, nur aus einer sentimentalen Laune heraus noch im Schrank liegt. Es gibt auch den Ansatz, dass all die Stücke, die häufig oder zuletzt auf dem Wäscheständer hängen, die Lieblingsstücke seien, also bleiben sollten. Es besteht aber stets auch die Möglichkeit, diese Art des minimalistischen bzw. reduzierten Bekleidens einfach mal auszuprobieren (das klappt ja im Urlaub auch). So könnten doch 80 Prozent des Kleiderschranks auch erst mal irgendwo zwischengelagert werden. Werden sie die Saison über nicht vermisst, können sie guten Gewissens verschenkt und verkauft werden.
Muck Petzet hat 2012 in seinem deutschen Beitrag für die Architektur-Biennale in Venedig das Thema „Reduce, Reuse, Recycle“ aufgegriffen und den deutschen Pavillon mit Projekten und Ansätzen bespielt, die eine neue architektonische Denkweise verfestigen, eine neue Art der Architekturbewertung etablieren.
Die Tatsache, dass in jedem Bauwerk, möge es aus heutiger Sicht noch so unästhetisch, unfunktional oder im städtischen Kontext eigentlich nicht tragbar sein, eine „Graue Energie“ schlummert, sollte zu einem neuen Handeln führen. Wir können es uns nicht mehr leisten, diese bestehende Substanz zu vernichten, bzw. mehr von ihr zu vernichten, als wir es aus funktionaler Sicht eigentlich müssten. Architektonische Formelästhetik wird hier stark hinterfragt – plötzlich weitet sich der Akzeptanzspielraum, weil das Bewusstsein des tatsächlichen Wertes eines Gebäudes geschärft wurde. Quer durch die ganze Architekturpresse finden sich nun Häuser, die einen Stil der adäquaten und verhältnismäßigen Anpassung eines gebauten Raumes an neue Bedürfnisse trugen. Eine minimalinvasive Anpassung, denn Narben, Brüche und Altes durften – sollten – sichtbar bleiben. Der Respekt gegenüber der Vergangenheit, der vernünftige Umgang mit Bestehendem und die künstlerische Freiheit, nicht alles niegelnagel-, blitzblank- und spurlos neu erscheinen lassen zu müssen, war zulässig und es schien, als würden diese Arten der Architekturen nach neuen Parametern bewertet. Ein weniger strenges, konsequentes, ein sensibleres, im Kontext achtsameres Schema. In der Ausstattung von Räumen, im Umgang mit einem Gebäude ist auch das „Konsumverhalten“ der Architekten und/oder Bauherren ablesbar. Wie viele Gegenstände (Heizkörper, Fenster, Küchenmodule, Türen …) werden nur ausgetauscht, weil „man jetzt einmal alles richtig macht und man dann ja auch Ruhe hat“. Nicht alle paar Jahre eine neue kleine Baustelle eröffnen, den Dreck im Haus haben. Ja … Diese Entscheidungen haben auch etwas mit Bequemlichkeit zu tun – in der gleichen Kategorie wie Wegwerfgeschirr zu benutzen und mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zum Supermarkt zu fahren.
Nun gibt es die unterschiedlichsten Ansätze, eine Erklärung für das überhöhte Konsumverhalten der westlichen Gesellschaft zu finden. Ist es die sinkende Moral, der steigende Egoismus, die Durchweichung der Persönlichkeit jedes Einzelnen? Weil nicht gesehen wird, dass ausgeprägtes Konsumieren menschliche Grundbedürfnisse nach Nähe, Liebe und Anerkennung durch Smartphones, Geländewagen, neue Einrichtungen, den neuesten Modeschrei und viele, viele Lebensmittel in den tollsten Verpackungen ersetzt? Ist es die Politik, die diese Geiz-ist-geil-Mentalität und das Kauf-3-zahl-2-auch-wenn-du-nur-1-brauchst-Prinzip nicht unterbindet und das Problem mit dem Müll, sprich mit der Masse an Verpackungen, jedem Verkaufsbetrieb selbst überlässt, in der Hoffnung, dass die Moral und das Gewissen noch nicht vollkommen der Sucht nach dem Mammon gewichen sind?
Die Experten sind sich einig: Entrümpelungen sind gesund, ob Keller, Wohnzimmer oder Kleiderschrank. Ein verantwortungsvolles Aussortieren, bewusstes (Wieder-)In-Gebrauch-Nehmen, die Trennung von Gewohntem, aber Überflüssigem, sind essenziell. Basisarbeit nennt man dieses Aufräumen übrigens auch, wenn nicht nur Dingliches geräumt, sondern auch Seelisches in Bewegung geraten darf, angeschaut, losgelassen oder neu platziert wird. Und der Mut, Bestehendes einfach mal zu akzeptieren in dem Bewusstsein, dass ein Austausch durch etwas Neues die Lebensqualität, das Selbstwertgefühl, den inneren Frieden nicht wirklich tangiert.
Wahre Größe zeigt man heute doch nicht mehr durch immer höher, schneller, weiter, neuer, schöner – an den Stellen, an denen schon alles in Superlativen existiert, darf es doch auch wieder klein und fein sein. Raum für eine Lieblings-Was-Auch-Immer und ein bewusstes Verzichten, weil man doch weiß, dass eine wahrhaftig empfundene Zufriedenheit nicht von Dingen, sondern von uns selbst und den Menschen, die uns umgeben, abhängt.
Film: Die Maisinsel, 2015, Regisseur: George Ovashvili
Buchtipp: Reduce, Reuse, Recycle von Muck Petzet und Florian Heilmeyer, 2012, Hatje Cantz Verlag
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