Leidenschaft: damals und heute

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Leidenschaft

Die Gefühlsregung, die uns den höchsten Berg bezwingen oder in den tiefsten Abgrund stürzen lässt:

Als vor rund 15.000 Jahren die letzte Eiszeit endete und die Temperaturen stiegen, begannen die Menschen sesshaft zu werden. Sie bauten Obst und Gemüse an, zähmten Hunde und errichteten feste Behausungen. Seitdem ist architektonisch viel passiert. Der Prozess von Bauvorhaben ist dabei stets der gleiche: Er beginnt mit einer zündenden Idee, und am Ende ist etwas erschaffen, das wir ansehen und anfassen können, das von Menschen mit Leben gefüllt wird. Der Weg dazwischen ist allerdings lang und teilweise steinig. Ohne Leidenschaft für Architektur, fürs Konzipieren und Gestalten wäre er oftmals undenkbar. Was genau aber ist Leidenschaft? Wie wirkt sie? Und wie kann man sie nutzen und bewahren?

Leidenschaft ist ein wichtiger Treibstoff, um voranzukommen. Sie ist wie ein Kleber zwischen uns und etwas. Sie schlägt eine persönliche Brücke zwischen unseren Interessen, unserer Biografie und einer Aufgabe oder anderen Person. Leidenschaft bedeutet Hingabe mit Haut und Haaren. Leidenschaft bedeutet, dass wir für etwas brennen. Leidenschaft gibt uns Energie. Durch sie bleiben wir am Ball, auch wenn es mal Hindernisse gibt oder Kritiker kommen. Sie ermöglicht es, dass wir schwierige Zeiten aushalten, da wir vor uns das Ziel sehen, den Sinn, das große Ganze. Leidenschaft ist ein Puzzleteil zum Erfolg.

Zwischen Krankheit und Lebensziel – ein historischer Blick auf Leidenschaft

Leidenschaft steht hoch im Kurs: Wir wollen eine leidenschaftliche Beziehung, einen Job, der zu unseren Leidenschaften passt, und Unternehmen sind ständig auf der Suche nach leidenschaftlichen Mitarbeitern. Doch so positiv wie heute wurde Leidenschaft nicht immer gesehen. In den letzten 2000 Jahren hat sie einen Bedeutungswandel erlebt. So waren sich die Denker der Antike einig, dass Leidenschaft etwas Gefährliches ist, was gezügelt werden sollte.  Andernfalls können wir ins Verderben stürzen. Sokrates sagte: „König ist nur, wer seine eigenen Leidenschaften be-herrscht.“ Epiktet sah die Gefahr, dass die Leidenschaften uns bestimmen, wenn wir sie nicht bremsen. Der Dichter Epicharmos riet, Entscheidungen nicht der Leidenschaft zu überlassen. Dafür sei der Verstand zuständig. Demokrit bezeichnete die Leidenschaft als eine Krankheit der Seele –
Gesundheit bedeutete für ihn Vernunft. Epikur sah das ähnlich: Für ihn bestand die Aufgabe der Philosophie darin, die Menschen von ihren Leidenschaften zu heilen. Diese birgt für ihn nämlich zwei Probleme: Bei Erfolgen bedeutet sie kein Ankommen, sondern treibt einen weiter, und bei Misserfolgen entstehen Leid und Trauer. Für Epikur standen nicht Selbstoptimierung und Freude im Mittelpunkt des Lebens, sondern ein Besinnen auf Tugenden. Man führt ein gutes Leben, wenn es frei von Schmerz ist. Glücksgefühle, Lust erleben – all das war für ihn nicht erstrebenswert.

Die Idee Epikurs greift der französische Philosoph Rousseau im 18. Jahrhundert wieder auf. Er sagte, dass das größte Problem der Leidenschaft ist, dass man begehrt, und wer begehrt, macht sich abhängig. Außerdem kann es sein, dass man leer ausgeht und damit scheitert. Etwas nicht zu haben, ist nach seiner Auffassung allerdings nicht schlimm. „Das Elend liegt nur im Verlangen.“ Zur gleichen Zeit beleuchtet der ebenfalls französische Philosoph Helvetius aber auch endlich die positive Seite der Leidenschaft: „Man wird stumpf, sobald man aufhört, leidenschaftlich zu sein.“

Die größte Aufwertung erlebte die Leidenschaft einige Jahre später mit Beginn der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik. Plötzlich standen Gefühle im Mittelpunkt, wobei es keine Rolle spielte, ob es um Freude oder Schmerz ging. Das Motiv der Sehnsucht, das eng mit Leidenschaft verwandt ist, tauchte immer wieder auf. Ebenso auch Freiheit und Fantasie, die Grenzen überwinden. Die Romantik war ein Befreiungsschlag von der Philosophie der Aufklärung, die vernunftgeleitet war, und dem Klassizismus, der von der Antike inspiriert war. Sich den Gefühlen hinzugeben war in der Romantik etwas Positives.

Experten in Sachen Leidenschaft: Die Gebrüder Grimm lieferten mit ihren Märchen die Vorlage für viele Filme über leidenschaftliche Gefühle und deren Auswirkungen. Dornröschen ist eines davon.

Sich auch dem Leid und der Hoffnung hinzugeben gehörte zur Lebenseinstellung, die Basis vieler Märchen ist. Das, was die Brüder Grimm damals aufschrieben, können wir noch heute in unzähligen Filmen entdecken. So funktionieren große Liebesfilme aus Hollywood. Die Hauptfigur befindet sich in einer negativen Situation, strengt sich an, handelt also leidenschaftlich, und ist am Ende des Films zu einem Helden gereift, der glücklich ist. Heute geht es nicht mehr um Drachen, Prinzessinnen und halbe Königreiche, sondern um moderne Varianten dessen.

Unsere heutige positive Sicht auf Leidenschaft ist vor allem aus der Zeit der Romantik geprägt. Die meisten verbinden mit dem Begriff Hingabe, Engagement, Energie, Motivation, Liebe, Erotik, Freude, Sinn, vielleicht auch Schokolade. Kaum einer denkt bei Leidenschaft noch an das, was die Antike betonte und was auch im Begriff selbst steckt: an eine Gefühlsregung, die Leiden schaffen kann.

Leidenschaft als magischer Magnet in uns 

Aus psychologischer Sicht steht Leidenschaft in keinem so negativen Licht, sondern birgt Chancen und Risiken. Die Chance ist, dass uns durch Leidenschaft Energie zuwächst, die uns beim Handeln hilft. Das Risiko besteht darin, dass wir uns in eine Sache verbeißen können, die hoffnungslos ist, davon wie besessen sind und uns daran aufreiben. Leidenschaft ist eine Naturgewalt in uns. Sie kann wie ein heftiger Regen sein, der den Pflanzen Nahrung zum Wachsen gibt, sie kann aber auch alles überschwemmen und nichts als Verwüstung zurücklassen.

So kann Leidenschaft uns helfen, immer wieder aufzustehen, unser Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, all die langwierigen und schweren Handgriffe zu erledigen und die Zeit dazwischen auszuhalten und weiterzumachen. Leidenschaft vermittelt uns Sinn, sie schafft eine Beziehung zwischen uns und etwas oder zwischen uns und einem anderen Menschen. Dabei ist sie ein Motor – weder gut noch böse. Sie treibt nur an und wertet nicht, sie ist ein Wie. Mit Leidenschaft können wir ins Paradies auf Erden steuern, aber auch in die Hölle.

Manchmal ist es gar nicht so leicht zu sagen, was die eigenen Leidenschaften sind.

Doch wenn man sie kennt, kann man dementsprechend leben und handeln – beruflich wie privat.

Falls es Ihnen so geht, versuchen Sie die folgenden sieben Fragen zu beantworten.

1 .Für welche Themen interessiere ich mich schon seit Jahren?

2. Bei welchen Themen und Aufgaben vergesse ich komplett die Zeit?

3. Welche Aufgaben erledige ich spielend leicht und vielleicht sogar besser als die meisten?

4. Bei welchen Aufgaben habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen?

5. Von welchen Jobs träume ich schon seit einer ganzen Weile?

6. Wie könnten meine Talente und mein Wissen die Welt ein Stück besser machen?

7. Was würde ich machen, wenn ich finanziell ausgesorgt hätte?

Leidenschaft hilft uns lediglich anzukommen. Ob sich das Ziel wirklich lohnt, müssen wir selbst entscheiden. Genau das ist aber die größte Herausforderung, denn die leidenschaftlichen Ziele liegen tief in uns verborgen, wir werden zu diesen Zielen. Daher können wir sie schlecht objektiv beurteilen. Wir können uns aber beobachten. Erleben wir durch unsere Leidenschaften eher Freude? Geben sie uns Sinn und Zufriedenheit? Oder leiden wir eigentlich nur? Es lohnt sich, seine Leidenschaften immer mal wieder kritisch zu hinterfragen. Sie können sehr leicht das Fundament eines Denkfehlers werden, dem jeder von uns sicher schon mal erlegen ist: Wenn wir schon viel Zeit, Energie oder Geld in etwas investiert haben, neigen wir dazu weiterzumachen, selbst wenn der Erfolg ausbleibt.

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Wir glauben, dass sich das Blatt doch bald wenden müsste, wir fürs Weitermachen belohnt werden und es sich dann rechnet. Doch dabei wäre es oft klüger, mit den bisherigen Verlusten im Gepäck einen Schlussstrich zu ziehen statt weiter zu investieren. Leidenschaft kann diesen Denkfehler befeuern, weil eine Nebenwirkung von ihr ist, blind und taub für kritische Aspekte zu machen. Der Schriftsteller Oscar Wilde sagte, dass Leidenschaft dazu verleitet, im Kreis zu denken. Im extremen Fall können Leidenschaften sogar zur Sucht werden. Dann bestimmen sie das Leben und andere Aspekte werden vernachlässigt. Unmerklich steigert sich die Dosis, es kommt zu Entzugserscheinungen und wir werden von der Leidenschaft beherrscht. Aus der Freude beim Einkaufen wird eine Shoppingsucht. Es beginnt mit der Hingabe zur Arbeit, und am Ende sprechen wir vom Workaholic. Aus einem guten Glas Wein am Abend werden mehrere Flaschen am Tag. Leidenschaft hat also viele Facetten: Sie kann uns den höchsten Berg bezwingen oder in den tiefsten Abgrund stürzen lassen.

Leidenschaft beim Arbeiten wecken, leben und bewahren 

Entweder hat man Glück oder Leidenschaft – mindestens eins von beiden braucht man, um erfolgreich zu sein. Erfolg zu haben bedeutet meistens nämlich, nicht nur Ideen zu haben und Pläne zu schmieden, sondern sie auch umzusetzen. Erfolg erfordert oftmals einen langen Weg. Unterwegs haben wir Zweifel, es gibt Hindernisse oder wir lassen uns schlicht und einfach ablenken. Leidenschaft hilft uns auf diesem Weg. Sie ist noch da, wenn die erste Begeisterung schon wieder von etwas anderem in Beschlag genommen wird. Durch Leidenschaft entsteht eine Anziehungskraft, eine Verbindung, die uns gut tut und besser anspornen kann als Geld oder Lob, weil sie so eng verknüpft ist mit uns als Individuum, weil wir uns durch die Leidenschaft ausdrücken.

Seine Leidenschaften zu kennen ist allerdings nur die halbe Miete. Entscheidend ist, danach zu leben. Der Alltag ist der größte Feind der Leidenschaft. Die Leidenschaft ist ein Träumer, der Alltag ein Realist. Die Leidenschaft schaut nach vorne, malt sich eine bessere Welt aus und träumt von dem, was sein könnte. Die Leidenschaft beflügelt uns, will uns helfen, das alles zu erreichen. Der Alltag ist im Hier und Jetzt. Ihn kümmern höchstens noch die Sorgen von morgen, die Chancen sieht er nicht. Da der Alltag immer um uns herum ist, können wir ihn nur schwer loswerden. Er kann maximal eine Pause machen, zum Beispiel wenn wir Urlaub haben. Doch schon am ersten Arbeitstag schleicht er sich vorsichtig an, um uns wenig später wieder ganz für sich einzunehmen. Der Alltag ist aber keineswegs schlecht. Er meint es eigentlich gut mit uns und hat wichtige Funktionen. Wie wäre ein Leben, bei dem wir nur auf die Leidenschaft hören würden? Entscheidend ist, dass Alltag und Leidenschaft in Balance sind, dass wir beiden Raum geben. Dann können sie sogar zusammenarbeiten. Der Alltag sieht dann ein, dass die Leidenschaft recht hat und es alles noch schöner sein könnte in der Zukunft. Und die Leidenschaft sieht ein, dass man trotzdem planvoll in kleinen Schritten vorgehen kann.

Fazit: Etwas mit Leidenschaft zu machen bedeutet nicht automatisch, dass es immer Spaß macht. Es bedeutet aber, dass die Energie da ist, um dranzubleiben, weil man einen Sinn darin sieht. Es bedeutet, ein Ziel zu haben. Das kann Spaß machen, erfüllend sein und die Lebensqualität erhöhen. „Do it with passion or not at all“, kann man auf Postkarten und Kühlschrankmagneten lesen. Also: Mach es mit Leidenschaft oder mach es gar nicht. Der Spruch klingt gut. Er spornt dazu an, die Zeit im Leben für Dinge zu verwenden, die einem wirklich am Herzen liegen, die kostbare Lebenszeit also nicht zu vergeuden. Allerdings stresst er auch ein bisschen. Es gibt Dinge, um die man nicht herumkommt, die mühsam sind und keine Freude bereiten. Aber das ist in Ordnung. Viel wichtiger ist es, zu schauen, ob das Verhältnis stimmt. Vor dem leidenschaftlichen Marathonlauf muss man sich die Schuhe zubinden. Vor dem Kochen mit Freunden muss man einkaufen und danach abwaschen. So ist das eben. Lassen Sie uns den Spruch deshalb umschreiben: Versuche mehr von den Dingen zu machen, für die du brennst, und verzweifle nicht an den Dingen, die nun mal notwendig sind.

René Träder

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