Kulturhauptstadt Matera – Höhlen zwischen Himmel und Hölle

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Gibt es noch magische Orte? Städte, der Vergessenheit entrissen durch Mythen, Magie, Mysterium? Namen, die sofort Bilder im Kopf auslösen, alte Geschichten zum Leben erwecken, längst vergangene Sagen beschwören? Denken wir an Babylon oder Byzanz, an Troja oder Atlantis, an Jerusalem oder El Dorado. Das Jahr 2019 präsentiert zwei europäische Kulturhauptstädte, die beide fraglos das Zeug zu mythischen Orten haben, die auf ihre Art einzigartig sind, die beide im Verborgenen blühen und nun die Chance haben, dem großen Vergessen entrissen zu werden. Denn Hand aufs Herz: Wer kennt schon Plovdiv oder Matera? Schwester-Städte: verborgen, vergessen, verkannt.

Skyline Matera

Nur knapp 1.200 Kilometer trennen die beiden Städte und doch liegen mit Albanien und Griechenland Welten zwischen ihnen. Die Gemeinsamkeit der beiden großen Unbekannten ist, schon in mythischer Vorzeit besiedelt gewesen zu sein. Plovdiv, nahe der türkischen Grenze in Bulgarien gelegen, gilt mit aktuell 300.000 Einwohnern als älteste Stadt Europas, ist sie doch seit 6.000 Jahren ununterbrochen bewohnt. Sie verführt ihre Besucher mit einer der schönsten Altstädte Europas. 

Höhlenbau in Matera
Höhlenbau in Matera

Matera, Küstenort am Absatz des italienischen Stiefels, liegt in der Basilicata und ist fast doppelt so alt, Forscher schwanken zwischen 9.000 und 11.000 Jahren. Den Kern der Stadt mit heute 60.000 Einwohnern bilden die rund 3.000 Sassi, was im Italienischen Steine heißt und Höhlen meint. Diese Höhlenwohnungen sind vor Urzeiten in den Fels aus Tuffgestein geschlagen worden, oft 15 Meter tief ins Gebirge. Die Archaik dieser künstlichen Grotten ist nur schwer abzubilden, sie waren bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts Höhlen der Armut, hier wohnten ganze Hirtenfamilien mit ihren Tieren ohne Strom und Wasser. Eine Besonderheit sind die über 100 Felsenkirchen mit ihren Reliefs und Fresken. In St. Lucia alle Malve können diese Höhlenmalereien bis ins 13. Jahrhundert zurückdatiert werden. In ihrer Einzigartigkeit sind die Sassi von Matera 1993 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden.

Dunkles Mittelalter, helles Mittelmeer

Nach Jahrtausenden frühsozialistischer Höhlenarmut erhielt Matera auf dem Hochplateau über den Höhlenhängen eine barocke Oberstadt mit herrlichen Prunkpalazzi und der Flaniermeile Via del Corso. Über alldem thront das trutzige Castello Tramontano, eine Stadtburg, die nie vollendet wurde, weil der Duca di Tramontano, der für die Härte seiner Steuereintreibung gefürchtet war, von den Materazzi vor der Kirche erschlagen wurde. Die Schutzheilige Materas, die Madonna della Bruna, sei ihm gnädig.

Blick über die Gassen von Matura

Matera – die Hölle Dantes? Oder die Schande Italiens?

Das Schicksal Materas besiegelte im 20. Jahrhundert ein Schriftsteller mit nur einem Buch. Der Turiner Carlo Levi, Arzt, Autor, Politiker, Maler, wurde in den Jahren des Faschismus von Mussolini in den entlegenen Süden verbannt, er schrieb dort seinen Roman „Christus kam nur bis Eboli“, der 1945 erschien. Eboli liegt zwar noch sehr weit nördlich von Matera, aber Levi beschrieb anschaulich die bäuerliche Armut und Verelendung, das Leben ohne Wasser und Strom als Dahinvegetieren aus dem Blickwinkel des Arztes. Er sah in Matera die Hölle aus Dantes Inferno. Das junge Italien der Nachkriegszeit nahm diese Sichtweise auf, erklärte Matera zur Schande Italiens, und seit 1953 erfolgte unter dem Premierminister Alcide de Gasperi die Zwangsumsiedlung der Höhlenbewohner in schnell errichtete Wohnblocks im tristen Nachkriegsstil, aber mit fließendem Wasser und laufendem Strom.

Das ist ja wie im Film

Mit dem Auszug der Bauern kam der Einzug der Filmemacher. Sie schätzten die archaische Wucht der Landschaft, die vorzeitliche Höhlenatmosphäre, so stellten sich Location-Scouts Judäa zu Zeiten des Herrn vor. Es ist merkwürdig: Von den 21 Filmen, die hier gedreht worden sind, ist die Vielzahl an Bibelverfilmungen kaum erklärbar. Das beginnt 1964 mit Pier Paolo Pasolini und seinem „Matthäusevangelium“. 1979 verfilmt Francesco Rosi Levis Buch „Christus kam nur bis Eboli“ an dem Ort, an dem dieses Buch spielt. Und mit Mel Gibson kommt dann endlich Hollywood: „Die Passion Christi“ wird ein Welterfolg made in Matera. Vorerst letzter Beitrag ist dann 2018 „Maria Magdalena“ von Garth Davis. Und wenn gerade kein Filmteam die Höhlenlandschaft auf Zelluloid bannt, finden die Restbestände der europäischen Hippies eine haschfreundliche Heimat. Nach 11.000 Jahren ist noch lange nicht Schluss.

Schönheit für die Ewigkeit

Der Status als Kulturhauptstadt 2019 kann ein Wendepunkt für Matera werden. Lokale Kritiker warnen schon vor einer Venezianisierung der Stadt, aber noch ist die schöne Unbekannte von den Problemen der Serenissima weit entfernt. Seit 1986 hat der italienische Staat über 50 Millionen Euro in die Höhlen gepumpt, sie ans Wasser- und Stromnetz angebunden, in einigen sind Edellokale eingezogen, andere werden bei Airbnb als Luxusabsteigen angeboten. Designläden entstehen neben coolen Bars, allein die Felsenkirchen erinnern noch an vergangene Jahrtausende, laden aber zum meditativen Besinnen ein.

Haus in einem Felsen
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So viel ist sicher: Matera wird nach 11.000 Jahren kein archäologisches Artefakt werden. Denkbar und wünschbar wäre ein europäisches Kreativkraftwerk für Designer und Digitalnomaden, Fashionistas und Filmer. Aktuell füllt sich das Höhlenkonglomerat wie eine leere Wabe mit kulturellem Honig, das Hauptstadtjahr gibt einen kräftigen Schub dazu. Und gerade weil die Perle der Basilicata noch nicht am internationalen Jetset-Rummel teilhat wie Sorrent oder Portofino, kann man sich aktuell als Entdecker fühlen an einem einzigartigen Ort dieser Welt.

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