Barbican Hall, London, 16. Januar 2004. Ein Dirigent. Ein unbewegter Taktstock. Ein Dirigentenpult. Darauf ein Wecker. Ein Orchester. Kein Laut (wirklich KEINER?). Das Publikum: gebannt. 4 Minuten und 33 Sekunden.
4’33 ist das wohl berühmteste Stück des US-amerikanischen Komponisten und Künstlers John Milton Cage Jr. (5. September 1912 – 12. August 1992). Ein Werk, das mit der – vermeintlichen – Stille spielt. Denn der Inhalt von 4’33 definiert sich keineswegs durch die totale Lautlosigkeit, sondern ist geprägt durch die Umgebungsgeräusche, die das Ohr des Zuhörers während der Performance erreichen. Eine Anregung zum Nachdenken über Stille und Musik.
Erkenntnis aus der echofreien Kammer
Musik? Das soll Musik sein? „Die Frage, was Musik sei oder nicht sei, ist so alt wie das Nachdenken über Musik selbst. Trotz der zahlreichen historischen Versuche, zu einem allgemeinen und grundsätzlichen Musikbegriff zu gelangen, gab und gibt es keine allein gültige Definition. Die bisherigen Begriffsbestimmungen stellten jeweils einen Bestandteil des Phänomens Musik in den Mittelpunkt.“2 Allein, dass Musik auf Schallereignissen beruht, ist weitgehend akzeptiert. Und frei von Schallereignissen war die Barbican Hall am 16. Januar 2004 nicht – so wie auch sonst kein Raum absolut still ist: eine Erkenntnis, die Cage in den 1940er-Jahren in einer echofreien Kammer erlangte.
„If something is boring after two minutes, try it for four. If still boring, then eight. Then sixteen. Then thirty-two. Eventually one discovers that it is not boring at all.“ 5
Der schalldichte Raum, dessen Wände, Boden und Decke konstruktionsbedingt keine Geräusche zurückwarfen, wurde für Cage zu einem Erkenntnisraum. Denn er hörte durchaus etwas: Töne, die durch seinen eigenen Herzschlag, das Rauschen des Blutes in seinen Adern und Frequenzen des Nervensystems produziert wurden. Auf dieser Erfahrung fußt Cages Auffassung, dass es keine Stille im Sinne absoluter Geräuschlosigkeit gibt: „There’s no such thing as silence.“ 3
Pause – Pause – Pause
In diese Erkenntnis mischen sich Cages Erfahrungen mit der Zen-Philosophie, die ihn ebenfalls seit den späten 1940er-Jahren in ihren Bann zieht und sich auf sein Werk auswirkt. Die Zen-Praxis beinhaltet Sitzen in Versunkenheit auf einem Kissen (Zazen). Mit ineinandergeschlagenen Beinen, geradem Rücken, entspannt ineinander gelegten Händen und halb geöffneten Augen soll der Geist beruhigt werden. Doch auch die Konzentration auf die Alltagsaktivitäten, ohne dabei anderen Gedanken nachzugehen, spielt eine große Rolle in der Lehre: Ziel ist es, die „Gedankenflut“ zu bändigen. In einem Zitat des Zen-Meisters Sengcan heißt es: „Wenn unser Geist die Ruhe findet, verschwindet er von selbst.“ Ein ähnliches Ziel verfolgt Cages Konzept bei 4’33, das zuweilen auch einfach „Tacet“ genannt wird.
„There is no such thing as an empty space or an empty time. There is always something
to see, something to hear. In fact, try as we may to make a silence, we cannot.“ 6
Drei Sätze ohne Noten – Tacet 1–3 – gliedern das Stück, das in einer beliebigen Kombination und mit jeder möglichen Anzahl an Instrumenten ausgeführt werden kann. Tacet bezeichnet in der Musik die Abschnitte, in denen der Instrumentalist oder Sänger pausiert. Die chinesische Orakelsammlung I Ging, das „Buch der Wandlungen“, diente Cage dabei als Grundlage zur Ermittlung der Tacet-Längen. Eine weitere Inspirationsquelle für 4’33 waren die „White Paintings“ von Robert Rauschenberg, mit denen der Maler „die Malerei auslöschen“ wollte. Der Bilderzyklus thematisiert die „Stille“, wobei der Betrachter und seine Umgebung, beispielsweise sein Schatten, Teil des Œuvre werden.
„Which is more musical: a truck passing by a factory or a truck passing by a music school?“ 7
Ein skandalöser Vordenker
Am 29. August 1952 wurde 4’33 in der Maverick Concert Hall in Woodstock (New York) durch den Pianisten David Tudor uraufgeführt, der die drei Sätze lediglich durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels anzeigte. Das Publikum zeigte sich empört, weil keine Musik zu hören war – die Bereitschaft, sich auf das Stück einzulassen, so wie es 50 Jahre später die sensibilisierte Zuhörerschaft in London tat, war noch nicht vorhanden. Ein Werk ohne „intentionale Geräusche“, jedoch mit der Intention, sich damit zu befassen, was wir hören, wenn es scheinbar nichts zu hören gibt – unfassbar, innovativ, wegweisend und damals skandalös. Nicht umsonst gilt Cage als Vordenker, der die gängige Auffassung von Musik in Frage stellte und als Schlüsselfigur der Neuen Musik – die nach neuen Klängen und Formen sowie neuartigen Verbindungen alter Stile sucht(e) – bahnbrechende Impulse gab. Zu seinen Schülern zählte beispielsweise John Lennons Witwe Yoko Ono, die bereits in den 1950er-Jahren seinen Rat suchte. Die Beatles widmeten Cage ihren experimentellen Song Revolution No. 9. Frank Zappa und viele andere Größen der Musikgeschichte interpretierten 4’33 im Laufe der letzten Jahrzehnte.
„We are involved in a life that passes understanding and our highest business is our daily life.“ 8
John Cage – ein einflussreicher Komponist? Ein intellektueller Performer? Ein Enfant terrible der Tonkunst? Sein Lehrer Arnold Schönberg, der ihn gar für talentfrei hielt, sagte, Cage sei „natürlich kein Komponist“, aber ein genialer Erfinder. Mit Sicherheit war er eine der wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Musik des 20. Jahrhunderts, die die Stille mit neuer Bedeutung füllte. Oder wie es in einer Laudatio 1978 während der Musikfestspiele in Bologna hieß: „Die Stille von John Cage ist ein offenes Ohr für den Ton der Welt.“4
2 Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Musik)
3 John Cage über die Premiere von 4’33“
4 Daniel Charles: John Cage oder Die Musik ist los, Merve Verlag Berlin, 1979, S. 9
5 https://www.brainyquote.com/quotes/authors/j/john_cage.html
6 https://www.goodreads.com/author/quotes/47403.John_Cage
7 https://en.wikiquote.org/wiki/John_Cage
8 https://quote.robertgenn.com/auth_search.php?authid=3138
Der US-amerikanische Komponist und Künstler John Milton Cage Jr. (1912–1992) brachte den Faktor Zufall in die Musik und war mit mehr als 250 Werken einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Viele seiner Kompositionen zählen zu den Schlüsselwerken der Neuen Musik. Darüber hinaus gilt Cage als Vater der Happeningbewegung und Vordenker der Fluxusbewegung sowie der Neuen Improvisationsmusik. Sein Schaffen umfasste ferner wegweisende musik- und kompositionstheoretische Schriften.