Großstadtminimalismus – Wohnen auf kleinem Raum

6 min Lesezeit

Es war Le Corbusiers Idee gewesen, den Antrag auf Reinkarnation zu stellen. „Wenn buddhistische Lamas auf Erden zurückkehren, um Menschen bei der Überwindung ihres Karmas zu helfen, warum durften Baumeister nicht Gleiches für die Planerinnung tun?“, hatte er vorm göttlichen Komitee argumentiert. Das wollte daraufhin die Notwendigkeit für ihre Rückkehr belegt haben. So saß Bauhausarchitekt Walter Gropius googelnd auf einer Wolke, erfreut über die Treffermasse, die Suchworte wie „Mikro-Apartment“ und „Minihaus“ hervorbrachten: „Spielt die Zeit für uns?“ Fast 90 Jahre war seine Teilnahme am Kongress „Die Wohnung für das Existenzminimum*“ her, auf dem internationale Architekturgrößen gemeinsam Lösungen gegen die Wohnungsnot ausgelotet hatten. Jene der 1920er-Jahre hatte die Industrialisierung ausgelöst. Scharenweise zogen Lohnarbeiter in Städte, die es mit Unterkünften zu rüsten galt: Indus-triebarone investierten in Siedlungen, der Staat in gemeinnützige Wohnungsgesellschaften. Es begann die Zeit der Standardisierung von Architektur, die so gute wie günstige Behausungen sichern sollte. Aber mit steigendem Wohlstand und Abwanderung der Menschen in die Speckgürtel kam der Sozialbau aus der Mode. Ab den 1990ern fand er nahezu nicht mehr statt. Denn kein Planer ahnte, dass europäische Metropolen mit der Digitalisierung einen erneuten Boom erleben würden. Heute herrscht wieder Notstand, weil das knappe Angebot die Mieten für Geringverdiener in unerschwingliche Höhen steigen ließ. Wer nicht pendeln will, speckt im Wohnvolumen ab.

(*Die Wohnung für das Existenzminimum, Hrsg.: Internationale Kongresse für Neues Bauen und Städtisches Hochbauamt Frankfurt/M., 1930)

Innenarchitektur des Mini-Studios vom Batiik Studio, Foto des Schlafbereiches
Mini-Studio, Paris - Batiik Studio - Fotos: Batiik Studio
Innenarchitektur des Mini-Studios vom Batiik Studio, weitere Perspektive des Schlafbereichs
Mini-Studio, Paris - Batiik Studio - Fotos: Batiik Studio
Innenarchitektur des Mini-Studios vom Batiik Studio, Blick zum Badezimmer
Mini-Studio, Paris - Batiik Studio - Fotos: Batiik Studio
Innenarchitektur des Mini-Studios vom Batiik Studio, Foto des Wohnbereichs
Mini-Studio, Paris - Batiik Studio - Fotos: Batiik Studio

Ist Minimalismus die neue Normalität?, bleibt Gropius an einem Artikel hängen. Das US-Magazin Forbes berichtet über den kometenhaften Aufschwung des „Aufräumcoachs“ Maria Kondo. Die junge Japanerin bringt Überflussgesellschaftlern professionelles Reduzieren bei. Millionenfach verkauft sich ihr Buch „The Life-Changing Magic of Tidying Up“ – was zur steigenden Nachfrage nach winzigen Wohnungen passt. 60.000 Menschen bewarben sich in New Yorks erstem Micro-Apartmenthaus Carmel Place auf die 14 integrierten, sozial geförderten Minilofts. „Sollte es gelingen, Wohnwelten zu reorganisieren?“, denkt Gropius erregt. „Die Wohnvisionen der Moderne hatten den Siegeszug des ‚bürgerlichen Familienheims‘ nicht verhindern können – private Refugien, die keine Einmischung von außen duldeten. Sollte nun ein Massenwunsch nach Verzicht entstehen? Das, gemeinsam mit den wachsenden Einpersonenhaushalten, würde die Basis schaffen, Kleinstwohnungen als eigene Wohnform statt als ökonomischen Behelf zu begreifen, so wie eine soziologische Studie es in den 1930ern prognostiziert hatte. Getrieben von Neugier, durchstöbert Gropius Bauportale: „Wie gestalten heutige Architekten das Wohnen am Existenzminimum?“

Collage einer Außenansicht eines Apartment-Blocks, einer Innenansicht der dazugehörigen Wohnung und einem Querschnitt der Wohnung
Micro-Apartmenthaus Carmel Place - nARCHITECTS - Fotos: Iwan Baan

Studiomama packt alles, was du brauchst, auf 13 Quadratmeter.
Der Artikel handelt von dem Versuch des Londoner Büros, ein 13-Quadratmeter-Haus in ein bewohnbares Heim zu verwandeln. „Platz“, argumentiert der Architekt Jack Mama, „wird immer mehr zum Luxus. Deshalb müssen wir die Art Lebensräume zu organisieren überdenken.“ Den Weg dorthin bahnen so schlichte wie flexible Einbauelemente, die Platz zum Arbeiten, Essen, Kochen und Duschen bieten. Zudem gibt es ein anständiges Bett, Stauraum, komfortable Sessel sowie Spiegel, die den Raum optisch weiten. Möbel von der Stange funktionieren nicht. Weil alles maßgefertigt werden muss, ist es eher so, als würde das Interieur eines Bootes oder Wohnwagens gestaltet – so eine Erkenntnis des Reduktionsexperiments. „Interessant! Also sind Schiffe und Campingausrüstung weiterhin große Vorbilder platzsparenden Wohnens“, drängen sich Gropius Déjà-vus auf. „Aber fragt heute keiner mehr, wie viel Flächenminimum der Mensch braucht?“ Bevor er seine Empörung über die absatzgetriebene Nachfragelogik vertiefen kann, lenkt ihn eine Überschrift ab: Raumwunder – Das Transformer-Apartment in Milano. Zu sehen sind wandumspannende Holzeinbauten, die die Wohnsituation durch Drehen und Schieben, zauberwürfelgleich, verändern. Mal separieren Falttüren das Schlafzimmer, mal nur das Bett, damit sich die Küche um eine Essecke erweitert. Trennt man Bett und Küche ab, entsteht ein Arbeitsraum. Gleichzeitig birgt die deckenhohe Installation jede Menge Stauraum: Hochgeklappt entpuppt sich das extrahohe Bett als begehbarer Schrank, selbst die Therme verschwindet im üppigen Stauraum. Dank der beweglichen Elemente, kombiniert mit Stauraum, hätten sie aus den notorisch teuren Altstadtquadratmetern das meiste herausholen können, erläutern die Architekten von Planair Studio. „Dynamische Zonierung, multifunktionale Nutzung, Stauraum – all das schafft Freiheit im begrenzten Raum“, resümiert Gropius. Allmählich ärgert ihn die in Mode gekommene Unsitte architektonischer Hochglanzfotos. „Wie soll man da realistisch urteilen. Dank Weitwinkel wirkt die winzigste Hütte geräumig.“ Das gilt selbst für die: 15 Quadratmeter hyper-optimiert. Besprochen wird ein Pariser Ministudio, dessen zentrales Element ein zweistufiges Podest ist, auf dem die Küche steht. Seine formschöne Begrenzung dient zugleich als Tisch, der sich für Besucher zur doppelten Breite umklappen lässt. Tagsüber verschwindet das Bett unter der hölzernen Erhebung, halb ausgezogen dient es als Sofa. Einbauten in der Dachschräge werden zu Schrank und Nachttisch. „Um den Raum bestmöglich zu nutzen und nicht in Unordnung zu ersticken, muss man seine Gesamtlänge antizipieren“, gibt Studio-Batiik-Architektin Rebecca Benichou Einblick in den Entwurfsprozess. „Schließt das Bewegungsstudien mit ein?“, schießt es dem Verfechter der Bauökonomie durch den Kopf. „Auf die haben wir viel Zeit verwendet. Unser Ziel war es, das Elementare zu finden, um universelle Standards zu schaffen. ‚Günstig produzieren ohne Komfortverzicht‘ war unser Credo. Doch heute scheinen Grundrisse und Ausstattung so individuell wie die postmodernen Lebensstile“, was ihm auch das nächste Projekt bestätigt.

Farbig unterteilter Querschnitt der 13 square metre Wohnung
13 square metre house - Studiomama

Winziges Apartment verbindet Räume durch Leitern. Wie Figuren im Computerspiel bewegen sich Bewohner des Madrider Apartments über Treppen und Leitern in die verschiedenen Lebensbereiche hinein. Dank vertikaler Anordnung kommt alles Nötige auf einer Grundfläche von 21 Quadratmetern unter, die sich zu 100 m3 Platz summiert. „Mit nur wenigen Grundbestandteilen wollten wir den winzigen Raum wie viele unterschiedliche Orte wirken lassen. Und jeder sollte natürlichen Lichteinfall genießen“, erläutern die spanischen Architekten von MYCC. „Licht, Raum und Sonne – was haben wir dafür gekämpft! Die scheint die Architektenschaft als atmosphärisches Muss verinnerlicht zu haben. Vergessen scheint hingegen Le Corbusiers Proportionssystem, das den Menschen zum Maß aller Gestaltung erhebt. Aber erst dadurch ließ sich Wohngüte objektiv beurteilen“, seufzt er. „Meist rechtfertigen Kosten den Verrat an baugestalterischen Grundprinzipien. Sind Mini-Behausungen also auch minimalistisch im Preis?“

Einblick in den Wohnbereiches des Miniapartments
21 m2 – 100 m3: Miniapartment Madrid - MYCC - Fotos: Elena Almagro
Einblick in den Schlafbereiches des Miniapartments
21 m2 – 100 m3: Miniapartment Madrid - MYCC - Fotos: Elena Almagro

Für 100 Euro in Berlin leben! Und zwar in einer sechseinhalb Quadratmeter großen Holzhütte mit verschachtelten Einbauten, die auf jeden Parkplatz passt. Der Berliner Architekt und Tinyhouse-Campus-Aktivist Bo Le Mentzel versteht sein Werk vor allem als pragmatische Lösung und politisches Statement. (Bilder s. Seite 48) „16 Euro pro Quadratmeter für eine beklemmende Hütte? Das ist wirklich eine Provokation, die das Ausmaß der Not belegt!“, reflektiert Gropius. „Bei den Preisen ist es kein Wunder, dass Fertighausanbieter und Investoren scharenweise ins Geschäft mit Mini-Apartments drängen.“ Wie in England:

Van Bo Le-Mentzel:

Vorfabrizierter Nachwuchs: Von-der-Stange-Häuser sollen Wohnkrise entspannen. Großartig zum Leben und für unseren Planeten, verspricht das „Launch Pad“ – ein schlüsselfertiges Microhome mit Null-Energie-Standard. Wimshurst-Pelleriti-Architekten trieb der Wunsch, keine Kompromisse in puncto Materialqualität oder Raumgefühl einzugehen. Heraus kamen 26 m2, die mit maximal 700 Pfund Monatsmiete übliche WG-Zimmerpreise unterbieten. 15 Prozent günstiger als Neubauten soll die Serienfertigung laut der RHP-Wohnbaugesellschaft sein. „Standardisierung und Vorfertigung reduzieren die Baukosten pro Quadratmeter. Darin liegt das Geheimnis der Industrialisierung. Nur, warum geht europäischer Investorenarchitektur die Raumanmutung verloren? Japan scheint sie zu gelingen“, überlegt der Standardisierungsverfechter beim Blick aufs Muji-Wochenendhaus. Denn er entdeckt:

Foto des Wochenendhauses bei Nacht
Muji Hut - Wochenendhaus - Foto: Ryohin Keikaku

Das Zen-Haus und die Kunst baulicher Vereinfachung. „Null-Energie-Häuser sind zu kompliziert und anfällig. Energieeffizienz und Nachhaltigkeit reichen aus“, unterstreicht Petr Stolin die Wichtigkeit, den gesamten Entstehungsprozess zu verschlanken. 750 Euro pro Quadratmeter kosten seine Doppel-Zen-Häuser, die schlichte Eleganz erschwinglich machen sollen. Inspiriert von japanischen Vorbildern, vereinfachte der tschechische Architekt radikal die Bau- und Lebensweise. Genutzt werden Industriewerkstoffe wie Sperrholz, Rohmetall und Acryl-Platten. Alle Materialien sind aus der näheren Umgebung, Technikeinheiten sind vorgefertigt. Minimal ist auch das Innere des Wohn- und Arbeitstrakts: „Wir brauchen Raum zum Denken, nicht für Möbel. Wir brauchen Geld, um das Leben zu genießen, nicht um Besitz abzubezahlen!“, so Stolin. „Detailverzicht ist ein Weg, Kosten zu reduzieren. Doch weder für Jahrzehnte noch fürs Stadtleben scheint dieses Arbeit-Wohnen-Arrangement mit integriertem Hof gemacht. Hochverdichteter Raum erfordert Lösungen, die sparsam mit Baugrund umgehen“, reflektiert Gropius und wird prompt fündig:

Foto des Zen-House bei sommerlichem Wetter
Zen-House - Petr Stolin - Foto: Filip Šlapal

Jetzt kommt das Minihaus fürs Dach. Und zwar in Berlin. Cabin Spacey heißt das 25-qm-Serienmodell, das effizient verdichten und „grün“ im Habitus sein will. Vorwiegend aus Holz gebaut, verbraucht es kaum Energie – und auf Flachdächern installiert keinen eigenen Baugrund. „Zuhause ist da, wo der Laptop ist, wo Freunde sind und wo man in der Kneipe begrüßt wird“, skizziert Cabin-Spacey-Mitgründer Simon Becker den wechselhaften Lebensstil seiner Klientel. An die urbanen Nomaden richtet sich seine temporäre Unterkunft. „Wohnen wird zum Kurzzeitbündnis, Architektur zum Ad-hoc-Produkt – ein spontanes Ereignis, dem städtebauliche Einpassung gleichgültig ist“, analysiert Gropius den gesellschaftlichen Wandel. „Gleichzeitig gewinnt das Teilen an Bedeutung. Sollte mein Vorschlag doch noch Gehör finden, kleine Individualräume mit Gemeinschaftsflächen zu kombinieren, um ökonomische Lösungen auszubaldowern?“, wägt er angesichts der Überschrift

Rendering eines Minihausesin Großstradtumgebung
Cabin Spacey - Simon Becker, Andreas Rauch - Foto: Cabin Spacey
Kollektivierter Luxus für Mini-Zimmer mit WG Konzept in London, Gebäude von Außen
The Collective, Old Oak/London - PLP Architects
Kollektivierter Luxus für Mini-Zimmer mit WG Konzept in London, Foto eines Gemeinschaftsraumes
The Collective, Old Oak/London - PLP Architects
Kollektivierter Luxus für Mini-Zimmer mit WG Konzept in London, Foto des Esszimmers
The Collective, Old Oak/London - PLP Architects
Kollektivierter Luxus für Mini-Zimmer mit WG Konzept in London, Einblick ins Schlafzimmer
The Collective, Old Oak/London - PLP Architects

Kollektivierter Luxus für Mini-Zimmer ab: The Collective heißt der 550-Betten-Turm in Old Oak, der „eine neue Art in London zu leben“ verspricht. Die meisten Zimmer messen zehn Quadratmeter mit eigenem Bad, die Küche wird mit dem Nachbarn geteilt. Außerdem brachten PLP Architects Spa, Filmraum, Bücherei und buchbare Esszimmer in dem 16.000-Quadratmeter-Komplex unter. Mit ca. 1.100 Pfund monatlich sind WGs oft die günstigere Alternative. „Spekulantentum! Wo ist nur die Sehnsucht nach der idealen Stadt und allgemeingültigen Formeln, die Wohnungsfragen für alle Zeit zu klären vermochten, geblieben? Le Corbusiers Cité Radieuse bleibt wohl bis auf Weiteres das strahlendste Beispiel minimalistischen Lebens“, fährt Gropius wehmütig den Computer herunter und simmst:

»Corbu, der Zeitgeist verlangt Individuallösungen und halbgare Standards – verzichten wir besser auf Reinkarnation.«

 

Text: Rahel Willhardt, www.visvisio.com

Buchtipp: Marie Kondo: The Life-Changing Magic of Tidying Up, 2014

 

www.narchitects.com

www.studiomama.com

www.planairstudio.com

www.batiik.fr

www.mycc.es

www.wimshurst-pelleriti.com

www.cabinspacey.com

www.thecollective.co.uk

Routebook bestellen