Etwas müde schaut er aus – und gleichzeitig hocherfreut: Andreas Teichmann öffnet seine Zimmertür im ersten Stock des Hotels „Deutsches Haus“ – mitten im fachwerkangereicherten Zentrum von Northeim im südlichen Niedersachsen. Er hat seinen Rucksack schon gepackt, begleitet uns auf einen Kaffee in den Frühstücksraum. Es wird sofort gescherzt, gelacht und geplant. Ein gemeinsamer Wandertag steht uns bevor, und die Vorfreude wächst. Die Atmosphäre im riesigen Kaiser-Wilhelm-Saal lässt den Eindruck entstehen, dass hier die Zeit stehen geblieben ist: ein kahler Raum mit eingedeckten Tischen, weißen Tischdecken, beigen Tapeten und roten, tunikaähnlich drapierten Vorhängen.
Die Eigenschaft „kommunikativ“ trifft auf jeden Fall auf den sonnengebräunten – zumindest an den aus dem Funktions-Shirt herausschauenden Armen bis kurz oberhalb des Ellbogens und ein V auf seiner Brust halsabwärts –, bärtigen, großen Mann zu. Seine Augen strahlen eine sympathische Offenheit aus, die eher Interesse als Neugier, eher Freundlichkeit als Fröhlichkeit, eher Besonnenheit als Entschlossenheit zeigen.
Endlich „on the road“ nordwärts durch die Fußgängerzone, fasst er in Worte, was er sieht. Bleibt stehen, überprüft ein potenzielles Motiv auf seine Qualität, seine Gehaltfülle, spielt gedanklich die Story durch, die sich vielleicht dahinter verbergen könnte, lässt den Gedanken wieder fallen, weil er beispielsweise bemerkt, wie die beiden betagten Damen mit den Augen gegen die blendenden Sonnenstrahlen anblinzeln. Das sähe merkwürdig aus auf dem Bild.
So wandern wir also stadtauswärts gen Norden, folgen der Stimme seiner Navi-Dame – unsere Blicke folgen derweil seinem zeigenden Finger oder unseren Nasenspitzen, der Straße, einem kuriosen Gefährt oder dem Flusslauf der Rhume. „Wussten Sie, dass sich auf der Nordhalbkugel der Welt die wohlhabenden Viertel immer im Süden der Städte, auf der Südhalbkugel aber immer im Norden befinden? Und die Ärmeren, die Elendsviertel, an der jeweilig gegenüberliegenden Vertikalrichtung?“ Nein, das wusste ich nicht – aber diese Frage führt über eine lange Unterhaltung zur Wahrnehmung zum Warum und endet irgendwann in der Bemerkung: „Schau dir das Panorama an. Die Natur, der Fluss, in dem die Sonne glitzert, die dramatischen Wolkenberge – jetzt fehlt nur noch ein Angler, dabei habe ich schon so viele. Also: Weiter geht’s!“
So wie die Straße unter den eigenen Füßen daherläuft, so dünnt sich die Bebauung aus. Grünflächen, Wälder, Feldwege nehmen zu, Urbanität nimmt ab. Wenn man denn hier in Niedersachsen von Urbanität sprechen kann. Um 21 Uhr sind die Bürgersteige hochgeklappt, gibt es in den Stadtkernen in den wenigen Restaurants keine warme Küche mehr. Und kalte manchmal auch nicht. Das macht ihm das Ankommen nach 20–25 Kilometern Fußmarsch und 11 Stunden Unterwegssein, mit Unterbrechungen für 2–3 Fotomotive, nicht leichter. Was dann nach dem Essen folgt, sind Dusche, Waschen der getragenen Wäsche, Übertragen der großen Bilddateien, Bearbeitung der ausgewählten Motive, Hochladen der Bilder (zum WLAN-Ausbau und dem technischen Standard in Deutschland äußert er sich an dieser Stelle auch … Zitat: „Desaströs!!“), Schreiben des Blog-Artikels unter Hinzunahme der aufgenommenen Audiodatei. Dann ist es meistens 2 oder 3 Uhr nachts – jetzt wissen wir auch, warum der Herr morgens so schlecht aus dem Bett kommt und lieber gen Osten als gen Westen läuft.
An einer Landstraße, in die ein Feldweg mündet und an der sich Paletten, ein „Land- und forstwirtsch. Verkehr frei“-Schild und die Anpreisung von Spargel, Erdbeeren und Kartoffeln in eine interessante Bildkomposition fügen, fährt Farin auf dem Hinterrad seines Trialrades, neugierig schauend, und frech-sympathisch grinsend, mehrmals an uns vorbei, den Feldweg immer ein Stück hoch und wieder runter. Ein bisschen nach dem Motto: Schaut mal, was ich kann. Und Andreas Teichmann schaut. Die Begeisterung über sein akrobatisches Können lässt ihn die Straße überqueren. Die Kontaktaufnahme läuft an. Was er denn da macht. Und warum. Warum er nicht in der Schule sei. Dass das aber alles schon sehr professionell aussehe. Ob er ihn vielleicht fotografieren dürfe, das würde allerdings ein Weilchen dauern, da er mit einer 100 Megapixel-Mittelformatkamera arbeitet, die recht aufwendig im Aufbau ist. Farin ist einverstanden. Seine Mutter ist unter anderem Ärzte-Fan, hat die Namen ihrer Kinder nach Musiklegenden gewählt. Farins Geschwister heißen Phil, Angus und Sue. Da ist Andreas platt. Was für eine Musikleidenschaft spricht da aus den Namen der Kinder? Und welche Frau mag dahinterstecken? Auf diese Fragen wird er keine Antworten finden, aber er wird einiges über den 17-jährigen Jungen, der geduldig seine Posen auf einer kleinen mit einem Häufchen Dreck markierten Stelle auf dem Feldweg einnimmt, erfahren.
Das war der erste Shoot für heute. Und vielleicht der beste der ganzen Tour, meint Andreas. Beseelt von dieser Begegnung, dem Bild, der Geschichte, die ihm hier einfach so geschenkt wurde, setzt er seinen Weg fort. Farin begleitet ihn in Gedanken und in unseren Gesprächen noch einige Kilometer. Rechter Hand erscheint das Kloster Wiebrechtshausen mit großer, plakativer Ankündigung auf dem Feld gegenüber: Hofverkauf. Freitags von 11–16 Uhr. Und? Heute ist Freitag, 14 Uhr. Das passt ja mal wieder. So widerfährt es dem Wanderer oft. Als er an Tag 25 vor der Mariengrotte Batten-Findlos steht, erfährt er von einem Passanten, dass sich seit dem Golfkrieg 1991 jeden Donnerstag um 14:00 Uhr eine Gruppe von Gläubigen aus der Region trifft, um den Rosenkranz zu beten. Tag 25 war ein Donnerstag, seine Uhr zeigte 13:50 an. Noch Fragen?
Das Kloster Wiebrechtshausen ist ein ehemaliges Zisterzienserinnen-Kloster aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es wurde verpachtet an die Eheleute Altenweger, die als Kartoffelbauern den Hof bewirtschaften. Wie eine Filmkulisse bilden die kleine Kirche, das Gutsherrenhaus, ein klösterlich angelegter Kräutergarten und die großen, wunderbar proportionierten Schober und Schuppen zur Lagerung der Geräte und natürlich der Kartoffeln eine Welt für sich. Der Fotograf macht sich auf den Weg, betritt behutsam dieses Stück Erde, von dem er noch nicht weiß, wie die Menschen hier auf einen fotografierenden Wanderer reagieren. Nach einer Zeit kommt er zurück, mit Herrn Altenweger im Schlepptau und einem Foto von seiner Frau in der Kartoffelscheune im Kasten. Dann gibt es eine kleine Brotzeit mit gekühltem Wasser und limonadenartigem Getränk – eine großzügige Spende des Kartoffelbauern.
Auf die Frage nach der beeindruckendsten, nachhaltigsten oder traurigsten Begegnung schüttelt er nur den Kopf. „Das wollen alle wissen – aber ich möchte die Begegnungen oder die Tage oder auch die Motive nicht werten. Alles hat in dem einen Augenblick einen so großen Wert für mich, ich werde berührt und beschenkt mit Offenheit, Ehrlichkeit und Authentizität … Es werden 50 Tage sein, die genauso, wie sie kamen, mit ihren Geschichten und Ereignissen, richtig und wichtig, beeindruckend und nachhaltig sind.“
Wenn er Ende September den nördlichsten Punkt von Sylt erreicht hat und seine Tour beendet ist, freut er sich natürlich auf sein Zuhause. So eine Wanderzeit ist strapaziös – körperlich und geistig. Jede Nacht ein anderes Zimmer, ein neues Bett, jeden Tag Schritt für Schritt gen Norden mit festgestecktem Kilometerziel und morgens gebuchter Schlafstätte. Den Luxus, nachmittags einfach mal ein Schläfchen zu machen, den wird er spätestens nach seiner Rückkehr zu schätzen wissen. Dann beginnt er mit der Planung einer weiteren Publikation und der Ausstellung seiner 50days/2019-Bilder – wie auch schon vor zwei Jahren.
Bevor er weiterzieht – er hat nämlich noch 18 Kilometer vor sich, um das Tagesziel von Tag 33 zu erreichen, und es ist schon 16 Uhr, also wieder ein spätes Ankommen –, gibt er uns und unseren Lesern noch mit auf den Weg: „Einfach losgehen. Es braucht nicht viel. Ein Spaziergang im eigenen Viertel, ein Gespräch mit Fremden, für eine längere Wanderung vielleicht noch Proviant … und etwas Mut, um aus der eigenen Komfortzone herauszutreten. Aber: Es lohnt sich in jeder Hinsicht!“
Danke, Andreas Teichmann, für den überaus sinnstiftenden und inspirierenden Tag!
Aufgestöberte Momentaufnahmen der ganzen Reise finden Sie auf unserer Reise-Seite – die vollständige Fotodokumentation mit umfangreichen Texten von Andreas Teichmann auf seinem Blog unter 50days.de.