1992 hat Francis Fukuyama das Ende der Geschichte und damit das Ende der Zukunft im Sinne einer Suche nach Utopien ausgerufen. Wer nachdachte, ahnte schon bald, dass Fukuyamas Diktum ein Trugschluss war. Heute wissen wir, dass wir ein vollkommen neues Verhältnis zur Zukunft benötigen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, führt dies ganz offensichtlich in eine von Menschen gemachte Katastrophe, deren Umrisse sich schon jetzt deutlich am Horizont abzeichnen. Wir benötigen also eine neue Erzählung von der Zukunft im Sinn einer gemeinsamen Zielvorstellung, eingebettet in einen globalen Wertekanon.
Ein immer noch anhaltendes Bevölkerungswachstum, der gigantische Nachholbedarf der Menschen des Globalen Südens in Bezug auf Bildung, Gesundheit und Wohlstand ebenso wie die heraufziehenden Auswirkungen der Erderwärmung – von Ernteausfällen über Hungersnöte bis hin zu dadurch ausgelöster massenhafter Migration – lassen es nicht zu, dass wir weitermachen wie bisher. Gleichzeitig sind die Anzahl und die Dimensionen unserer Probleme zu groß geworden, als dass sie eine einzelne Nation oder ein Zusammenschluss mehrerer Nationen lösen könnte. Es braucht ein solidarisches und problemorientiertes orchestriertes Handeln der Weltgemeinschaft in toto.
Das Streben nach dem eigenen Vorteil darf nicht länger die Agenda bestimmen.
Das gemeinsame Lösen gemeinsamer Probleme, von der Stabilisierung der Permafrostböden im Norden Sibiriens bis zur Entmüllung der Weltmeere, von der Rettung der Grundwasservorräte in Kalifornien, Spanien und anderswo bis zum international koordinierten Anpflanzen von Wäldern, muss jetzt zu unserer Priorität werden.
Internationale Solidarität ist angesagt. An oberster Stelle sollte für uns die voraussetzungslose Anerkennung des anderen als eines Menschen gleicher Würde sowie die Wiederherstellung und Pflege der Natur als der großen Ermöglicherin menschlichen Lebens stehen. Die letzte der von mir im Jahr 2020 publizierten „Siebzehn Thesen“ drückt genau dies aus. Sie lautet: Natura mensura est. Die Natur ist das Maß aller Dinge. Aus dem in der Aufklärung entstandenen „Ich, das Subjekt – die Natur, das Objekt“, aus dem „Ich bin ein Gegenüber der Umwelt“ muss ein „Die Natur und ich sind ein und dasselbe“ werden.
Die Maxime des unbedingten Erhalts der Natur als Lebensgrundlage für die Menschheit kollidiert fundamental mit der in vielen Ländern – nicht nur des Globalen Nordens - regierenden Maxime des steten Wachstums bei gleichzeitiger Ertragsmaximierung. Würde man die Ansprüche der Menschen im Globalen Norden mit ihrem Immer-mehr und Immer-größer auf die gesamte Weltgemeinschaft übertragen, so müsste man allein zur Erlangung der Wohlstandsparität im baulichen Bereich die heute bestehende Welt bis 2050 noch weitere drei Mal errichten. Dass damit der sofortige ökologische Kollaps einhergehen würde, ist evident.
Es geht beim Bauen also zukünftig um die Angemessenheit der Lösungen und um Naturverträglichkeit. Das Bauen wird sich verändern müssen. Aber wie lassen sich neue gesamtgesellschaftliche Zielvorstellungen, ein anderer Umgang mit der Natur und eine neue Technologie des Bauens vereinen? Und wie kann eine neue Art zu bauen nicht nur umgesetzt, sondern auch durchgesetzt werden?
Wir haben unsere Zukunft zu lange aus dem Blickwinkel unserer persönlichen, vielleicht noch der familiären, sehr selten der nationalen Perspektive, so gut wie nie als Blick auf die Welt insgesamt gedacht. Jetzt, wo immer klarer wird, dass das Verhalten der anderen (auch wenn sie Tausende Kilometer entfernt leben) das eigene Lebensumfeld beeinflussen, unter Umständen sogar zerstören kann, stellen wir fest, dass wir keine Vorstellung von einem verantworteten Zusammenleben der Weltenbewohner untereinander und der sie umgebenden Natur besitzen.
Wir müssen sie also erst entwickeln, unsere gemeinsame Vorstellung von Zukunft. Wissenschaftlich begründete Sichtweisen müssen hierin ihren Platz haben. Andererseits müssen wir, um es mit Hans-Georg Gadamer zu sagen, das große Vermächtnis unserer Wissenschaftskultur in seiner Begrenztheit einsehen. Denn sonst bringen wir uns mit Sicherheit irgendwann um.
Wir müssen diese große Erzählung jetzt entwickeln – eine Erzählung, die uns einen kohärenten Rahmen für das Verständnis der Welt schafft, die implizite Handlungsanweisungen für das gesellschaftliche Zusammenleben und für den Umgang der Menschen mit der Natur formuliert.
Von Peter Sloterdijk stammt die Formulierung, dass es … zur Signatur der Humanitas (gehöre), dass Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne dass sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefasst zu lassen. Die Frage, ob es für die Entwicklung unserer Vorstellung von Zukunft, für die Entwicklung unserer großen Erzählung nicht schon zu spät ist, sollte also gar nicht erst gestellt werden. Und auch wenn Ernst Blochs Di-agnose der utopischen Unterernährung, gar der Impotenz im Antizipatorischen unserer Gesellschaft richtig sein sollte: Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als es zu versuchen!
Ganz wesentlich sind hierbei die wissenschaftlich sehr gut erfassten Bereiche Weltbevölkerung, Ernährung, Ressourcenverbrauch, Abfallentstehung und Landnutzungsänderungen sowie die zwischen diesen Bereichen bestehenden Zusammenhänge. So wird die Weltbevölkerung innerhalb der kommenden Generation (also bis 2050) um ca. 25% zunehmen, die Nahrungsmittelproduktion gegenüber heute aber infolge der Klimaerwärmung voraussichtlich abnehmen. Gleichzeitig wird der Ressourcenverbrauch drastisch ansteigen, denn alle, die nicht der Verelendung preisgegeben sind, werden auf dem Weg nach Wachstum und Wohlstand einen deutlich ansteigenden Ressourcenbedarf haben. Damit einher gehen erhöhte Abfallentstehung und weitere Landnutzungsänderungen.
Das Gros des Wachstums der Weltbevölkerung wird in Afrika und Südostasien stattfinden. Allein in Afrika wird die Bevölkerung bis 2050 um ca. 1,2 Mrd. Menschen wachsen. Dies sind ca. 46 Mio. Menschen pro Jahr. Auf das Bauwesen bezogen bedeutet dies, dass allein in Afrika alle zwei Jahre das heutige Bauvolumen der Bundesrepublik realisiert werden muss. Dies wird nicht nur aus Gründen der Ressourcenverfügbarkeit kaum möglich sein. Es fehlen auch die Fachkräfte, um für so viele Menschen Wohngebäude, Schulen und Krankenhäuser zu errichten – und gleichzeitig auch die Bereitstellung von Trinkwasser oder die Entsorgung von Abwasser und Müll zu planen und zu organisieren.
Unzureichende Budgets und mangelhaftes Know-how erfordern unsere Hilfe – nicht jedoch im Sinn eines Transfers unserer althergebrachten Lösungen in diesen Teil unserer Welt. Vielmehr ist Unterstützung bei der Entwicklung neuer, angemessener Lösungen gefragt. Die große Chance des Globalen Südens besteht ja gerade darin, dass er die von uns gemachten Fehler nicht mehr machen, sondern im Sinn eines Leap-Frogging ganze Kapitel in der Geschichte der europäischen und nordamerikanischen Stadt- und Siedlungsgeschichte überspringen kann, beispielsweise das der autogerechten Stadt, des Heizens und der Warmwasserbereitstellung mit verbrennungsbasierten Systemen oder auch der Verbannung der Natur aus dem Lebensraum der Menschen.
Es muss uns gelingen, in den Regionen mit großem Bevölkerungswachstum eine gebaute Heimat zu schaffen, die ein menschenwürdiges, gesundes Leben im Einklang mit der Natur ermöglicht. Schaffen wir dies, dann kann hieraus eine Handlungsanleitung, eine Vorbildwirkung für die ganze Welt entstehen. Einfach wird dies nicht, denn: Wir dürfen den negativen Einfluss des Bauwesens (das weltweit für ca. 60% des Ressourcenverbrauchs, mehr als 50% des Massenmüllaufkommens und für mehr als 50% der klimaschädlichen Emissionen steht) nicht vergrößern. Wir müssen diesen Einfluss auf ein Minimum reduzieren. Mit konventioneller Bautechnik, wie wir sie aus den Ländern des Globalen Nordens kennen, wird dies nicht möglich sein. Es muss zukünftig also darum gehen, mit weniger Material für mehr Menschen emissionsfrei zu bauen.
Ich schätze den erforderlichen Reduktionsfaktor bei den Baustoffen auf 2/3, das heißt, dass zukünftig, im weltweiten Durchschnitt betrachtet, alle baulichen Funktionen mit ungefähr einem Drittel des heute für vergleichbare Funktionen eingesetzten Materials realisiert werden müssen. Im Bereich der Emissionen wird ein net-zero sowohl im Bereich der grauen Emissionen wie auch der Emissionen in der Nutzungs-, Umbau- und Rückbauphase zum Standard werden müssen.
In der Zukunft wird Bauen also materialsparend und emissionsfrei sein. Unsere Häuser werden keine Schornsteine mehr haben, wir werden vermehrt Sekundärbaustoffe einsetzen und alle Konstruktionen auf vollständige Recyclingfähigkeit ausrichten. Die Ver- und die Entsorgung mit bzw. von Material wird regional erfolgen, um transportbedingte Emissionen zu minimieren. Entlang der Prozesskette, insbesondere auf den Baustellen, wird es keine Abfälle mehr geben. Die Energieversorgung wird ausschließlich elektrisch erfolgen.
Wir sind damit auf dem Weg zum großen Ziel der elektrischen Stadt, einer Stadt, die auch still sein kann und in der die Luft sauber ist. Und wir werden die Natur in die Stadt hineinbringen, aus klimatologischen Gründen, zur Verbesserung der Biodiversität und, wahrscheinlich der wichtigste Grund, weil die Menschen es so wollen.
Wenn wir in den Ländern des Globalen Südens die Funktion des individuellen Kraftfahrzeugs durch eine klug organisierte Car-on-Demand-Lösung ersetzen, dann werden diese Städte nahezu die Hälfte weniger an Straßen- und Parkplatzflächen benötigen als die Städte des Globalen Nordens. Öffentlich nutzbare Flächen, sei es für Urban Gardening, Spielplätze und vieles andere mehr werden die Städte der Zukunft charakterisieren, genauso wie ein Durchweben der Städte mit Bäumen und begrünten Fassaden, mit attraktiven Zonen des Aufenthalts und der Kommunikation für jedermann. Vielleicht können wir in dieser neu gebauten Welt im Globalen Süden das erschaffen, was vielerorts verloren gegangen ist: Architektur mit der Qualität gebauter Heimat.