Zusammentreffen. Zusammenkommen. Zusammensein.

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Eine kurze Geschichte der Begegnung. Seit Urzeiten begegnen sich Menschen – zufällig an der Haltestelle oder verabredet zum Bewahren des Hambacher Forstes. Ob sie dabei Ernsthaftes im Sinn haben wie den Turmbau zu Babel oder Spaßiges wie ein Date bei Tinder, Begegnung hat Sinn. Und sie ist digital über den ganzen Erdball möglich. Wir sprachen mit Zeitgenossen und Psychologen, suchten in der Geschichte der Begegnungen und finden vielleicht eine Idee für die Zukunft.

Mann und Frau vor einem Baum mit einer Schlange in der Baumkrone
Adam und Eva unter dem Baum der Erkenntnis © ivan-96/istockphoto.de

Paradiesvögel

Muss das ein Bild sein: eine Frau, nackt, wie Gott sie erschuf, geht auf einer Wiese auf einen ebenfalls nackten Mann zu und sagt: „Hallo, ich bin die Eva.“ Darauf er: „Und ich bin der Adam. Du siehst ja toll aus. Wie aus meiner Rippe geschnitten.“ Später kommen dann noch ins Spiel eine Schlange, ein Apfel und schließlich ein alter Mann, der sich als Gott vorstellt und die zwei rausschmeißt aus seinem Paradies. Kein Witz, sondern die erste Begegnung der Menschheit. Aber so eine Szene könnte sich auch heute bei einer Insel-Paarbildungs-Soap abspielen, ob Bachelorette oder Liebes-Insel. Mit Millionen Zuschauern, die einsam vor ihren Bildschirmen den Begegnungen anderer folgen, sie kommentieren oder teilen, liken oder nicht. Und noch eine weit zurückliegende Begegnung hat Welt-
und Kinogeschichte geschrieben ...

Ins alte Ägypten

Cleopatra ist die ebenso schöne wie grausame Ptolemäer-Herrscherin am Nil. Sie wird von etwa 69 bis 30 vor Christus nicht sonderlich alt, erlebt aber einige Begegnungen, die ihr Leben verändern. Zunächst mit zweien ihrer Brüder verheiratet, erobert sie mit den Reizen einer Frau den Eroberer Cäsar, indem sie sich ihm als Präsent in einem Teppich überbringen lässt. Sie bekommen einen Sohn, aber der schon leicht ergraute Cäsar fällt seinem Brutus zum Opfer. Nach seinem Tod verführt sie seinen Nachfolger Marcus Antonius und heiratet diesen Römer als ihren dritten Mann. Erst als die Militärmacht Roms erneut die Grenzen ihres Reiches bedroht, entschließt sich das römisch-ägyptische Ehepaar vermutlich zum gemeinsamen Doppelselbstmord, er wählt männlich das Schwert, sie zieht den Biss einer Kobra als Mittel der letzten Wahl vor. Einige Jahrhunderte später wird diese Shakespeare-Story zu einem der teuersten Werke der Filmgeschichte. Und wie die Begegnungsdramaturgie es will, verlieben sich die beiden Hauptdarsteller Elizabeth Taylor und Richard Burton ineinander, obwohl sie noch anderweitig verheiratet sind. Doch ein Jahr Drehzeit schweißt zusammen, und sie werden unvermeidlich das Traumpaar Hollywoods. Die Produktionskosten des Streifens steigen von 2 auf 44 Millionen Dollar und bringen das berühmte Introhochhaus der Produktionsgesellschaft  20th Century Fox fast zum Einsturz, doch das Meisterwerk heimst 1963 vier Oscars ein und verdient bis heute Hunderte Millionen Dollar. Mit einer Story, die noch 30 Jahre vor Christus endet.

Wobei wir bei der nächsten Story der Begegnung gelandet sind. Das verbreitetste Buch der Welt, die Heilige Schrift, ist eine wahre Bibel der Begegnungsdramaturgie, wo immer alles möglich scheint. Ob Jesus Händler aus dem Tempel jagt, Aussätzige heilt, Jünger sammelt, das Abendmahl spendet oder seinen Peinigern vergibt, immer ist Kontakt zu den Menschen der bestimmende Antrieb, der messianische Motor.

Portrait von zwei männlichen Statuen
Karl Marx und Friedrich Engels als Bronzefiguren im Marx-Engels-Forum Berlin © Bettabi/istockphoto.de
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BEGEGNUNG [#36] oder: Was könnte Sie treffen?


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Begegnungen, die die Welt verändern

So wie die Begegnung von Schiller und Goethe in Weimar die literarische Welt der Klassik erstrahlen ließ, wie sie gemeinschaftlich oder in gewollter Konkurrenz Werke schufen, die noch heute den Kanon unserer Bildung bestimmen, so veränderten Karl Marx und Friedrich Engels mit ihren Schriften das Verständnis unserer Welt und initiierten dadurch die großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Beides Begegnungen als Kopfentscheidung, gemeinsame Interessen zu haben, zusammen mehr erreichen zu können und Freunde fürs Leben werden zu können. 

Eine historische Begegnung, die leider viel zu wenig bekannt ist, nämlich das Aufeinandertreffen von Feinden fürs Leben, sei hier kurz gestreift: Am 28. September 1918 begegneten sich am Rande der Schlacht von Marcoing der verletzte, vollkommen verirrte Fernmeldegefreite Adolf Hitler und der spätere englische Kriegsheld Henry Tandey. Als der Hitlers armseligen Zustand erkannte, entschloss er sich, nicht zu schießen und den Feind entkommen zu lassen. Als höchstdekorierter Mannschaftsdienstgrad wurde er mit einem Porträtgemälde geehrt. Davon erfuhr auch Hitler, bat um eine Fotografie des Gemäldes, die er mit einer Kopie des Wehrpasses Tandeys bekam. Als sich Hitler zwanzig Jahre später mit Neville Chamberlain in München traf, bat er ihn, Grüße an Tandey auszurichten, was Chamberlain auch tat. Der Held des Empire, der noch bis 1977 lebte, bedauerte nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht geschossen zu haben – es wäre eine Kugel gewesen, die den Lauf der Welt verändert hätte. 

Porträt des englischen Kriegshelden Henry Tandey © wikipedia.org

Orte der Begegnung

Seit Romeo und Julia wissen wir, dass Balkone ganz besondere Orte sind für ein Stelldichein. Schon die mittelalterlichen Troubadoure sangen unter den Brüstungen ihrer Angebeteten und auch das bayerische Fensterln hat hier seinen Ursprung. In den 70er- und 80er-Jahren galt die Disco als Ort des Kennenlernens, und bei „Titanic“ haben wir gelernt, dass man nach einer Kreuzfahrt mehr Leute kennt als vorher, vorausgesetzt, das Schiff erreicht sein Ziel. An dieser Stelle sei aber noch an eine Legende der Begegnung erinnert, deren Entwicklung viel über Kennenlernkultur aussagt. 1948 eröffnet der bekannte Hamburger Gastronom Wilhelm Bernhard Keese das Café Keese, ein plüschiges Salonlokal, das ausdrücklich der Damenwelt gewidmet ist. Kriegerwitwen, Trümmerfrauen, Übersiedlerinnen sollen wieder an den Mann gebracht werden, darum erfindet er den Ball Paradox: Die Frauen fordern die Männer auf, auf kleinen Tischchen steht ein Telefon mit Nummer, sodass man vor dem ersten Tanz ganz unverbindlich plaudern kann. Die Veranstaltung nennt Keese „Ball Paradox“, er gibt das Motto aus: „Denken Sie stets an die These, es regiert die Frau im Keese.“ Mit diesem Leitsatz eröffnet der Keese-Knigge, der auf jedem Tischchen ausliegt, die Regeln des guten bürgerlichen Benehmens. Dazu passt das Outfit, eine weiße Prinzessin prangt über dem Eingang, sie lupft ihren Rock zum Spruch des Hosenbandordens: „Honi soit qui mal y pense“
(Ein Schelm, wer Böses dabei denkt).

Café Keese Eingang mit Spruch: „Honi soit qui mal y pense“
Der Eingang des Tanzlokals Café Keese © atlantic-kid/istockphoto.de

Das Café Keese wird zum Kult, Niederlassungen werden an der Ostsee und in Berlin gegründet, über 50.000 Ehen sollen ihren Ursprung im Keese haben. Wer heute auf cafekeese.de schaut, was in der Berliner Bismarckstraße noch geboten wird in leicht plüschigem Ambiente, an Foxtrott-Treff und Schwoofparty, an Oktoberfest und Crazy Sunday, der glaubt, die gute alte Zeit endet nie. Doch zusammen mit der Reeperbahn erlebt das Hamburger Ursprungslokal seinen Niedergang, besonders nach dem Rückzug des Gründers. Zunächst übernehmen Kiezgrößen das bekannte Lokal, 2006 belebt es noch einmal der Comedian Thomas Hermanns mit dem „Quatsch Comedy Club“, er reitet auf der großen Comedy-Welle, die Deutschland überzieht, und ab 2013 folgt die nächste Wandlung. Der einstige Kult-Kennenlerntempel, eine Ikone der Kiez-Kultur, wird zum Fischlokal mit Straßenverkauf à la Nordsee. Welch ein Abstieg: vom Tanzlokal zum Räucheraal. Damit stellt sich die Frage: Braucht es im Zeitalter der Digitalisierung noch Stätten der Begegnung? Braucht es Jugendclubs und Teestuben, Vereinshäuser und Stadtteiltreffs, wenn jeder sich mit jedem zu jeder Zeit verlinken kann?

Algorithmus trifft Faustkeil

Die Digitalisierung trifft auch auf Menschen, die in ihrer genetischen Evolution dem Neandertaler näher sind als dem Digital Native, der das Smartphone nur als Außenstelle seines Gehirns begreift. Gerade meldet der Lehrerverband, dass Schüler motorische Schwierigkeiten hätten, mit Stift und Schere umzugehen, weil sie außer dem Wischen über das Display keine Bewegungsmuster erlernt hätten. Hinzu kommen Lese- und Schreibschwächen, die auch für die Zukunft einen hohen kommunikativen Verlust anzeigen.

Baby mit Handy in der Hand
Kinder kommen immer früher mit der digitalen Welt in Berührung. © Jovanmandic /istockphoto.de

Wir treffen Laura T., eine 22-jährige Psychologiestudentin an der Universität Bonn. Sie hat vor einigen Monaten ihren neuen Freund in New York kennengelernt, so viel Distanz ist medial leicht zu überwinden, dank Twitter und WhatsApp ist der tägliche Austausch kein Problem. Vor einigen Wochen haben die beiden via Skype gekocht, beide das gleiche Gericht, er in seinem Apartment in New York, sie in ihrer WG in Bonn. Und – der nächste Flug zum Big Apple ist schon gebucht. Laura hat einen älteren Bekannten, Helmut, der würde gerne mal wieder einer Frau begegnen. Laura kann helfen, Tinder macht’s möglich, sie erstellt von ihm ein Profil, maximal sechs Bilder, Körpergröße, Gewicht, zwei Emojis, fertig ist das Bild einer Persönlichkeit. Und dann wird gewischt nach rechts und links, Top oder Flop, nach zwei Tagen findet er eine alleinerziehende Mutter, sie tauschen Nachrichten, verabreden sich für ein Musikfestival, noch nie war Kontakt so einfach. Und: Alle elf Minuten verliebt sich ein Single auf Parship. Ob und was daraus wird, dafür gibt es Beispiele, aber keine Studien. Und schon die immensen Werbeausgaben der Beziehungsdienste und Partnervermittlungen zeigen, wie viele Einsame es gibt in einer allseits vernetzten Welt.

Gar nicht einsam sind wir in jenen Social-Media-Kanälen, die uns das Arbeiten erleichtern wollen, uns aber kontinuierlich davon abhalten, etwa Xing oder LinkedIn. Da sollen wir Kollegen einschätzen, ihre besonderen Fähigkeiten bewerten, anderen zum nächsten Karriereschritt gratulieren und unser Profil bitte noch einmal überarbeiten. Zugegeben: Diese Portale haben einen unleugbaren Nutzen, sind aber in ihrer von Algorithmen gesteuerten Eigenaktivität Zeitfresser und Nervenmonster. Neurobiologen beklagen die extrem hohe Zahl an Unterbrechungen ohne Relevanz, den dadurch verursachten Verlust an Gedächtnis und Abbau an Wissen. Denn das Wissen im Netz ist nicht das Wissen in unseren Gehirnen. Zwar können wir im Netz alles Wissen abrufen, wir entscheiden aber aufgrund des im Gehirn gespeicherten Wissens. Das nimmt messbar ab, der Neurobiologe Martin Korte bringt es auf den Begriff: „Das Gehirn hat keine Festplatte.“

Und ebenso wie der Wissensspeicher leidet nachweislich die Aufmerksamkeit, die Kognition. Konnten sich Probanden früher einen willkürlichen Begriff ohne Zusammenhang im Schnitt 15 Sekunden merken, sind das heute gerade noch 11 Sekunden. Das wirkt sich auch aus auf die Einordnung von Kontaktanfragen. Wie häufig melden sich Zeitgenossen via Xing und LinkedIn, und man fragt sich: Wer ist das überhaupt? Was will der? Wohl jeder kennt die Anfrage ausländischer Banker, die uns hohe Summen überweisen wollen und die wir schnell per Mail kontaktieren sollen. Diese vollkommen anonyme Kontaktanbahnung wird sich nach Expertenmeinung deutlich erhöhen, allen Spam-Ordnern und Virenschutzprogrammen zum Trotz.

Ein anderes Faktum verändert die Begegnungswelt ganz extrem: Das konkrete Bild verdrängt zunehmend das abstrakte Wort. Auf dem mittlerweile führenden Social-Media-Kanal Instagram postet man sein Essen, bevor man es verzehrt, inszeniert man sich in Outfit und Make-up, bevor es auf die Piste geht. Die Selbstquälerei der Ich-Inszenierung hat aber auch einen neuen Beruf mit Gutverdienerqualitäten erbracht – die Influencer. Ab einer gewissen Zahl von Followern sind diese Direktbotschafter interessant für Hersteller und Marken, sie geben Kauftipps ganz persönlich, auch wenn diese vom Hersteller gekauft sind. Influencer wie Caro Daur, die sich von Marken komplett bezahlen lassen, jetten für ein Millionenjahreseinkommen an die schönsten Plätze der Welt, um dort auf den In-Events die Trends von morgen schon heute zu präsentieren.

Rom – urbi et orbi

Die beeindruckendste Begegnung des Autors dieser Zeilen war eine andere. Der Petersplatz in Rom bei frühsommerlichen Temperaturen und ein dreistündiges Warten auf die Audienz von Papst Franziskus. 180 Minuten inmitten einer fröhlichen Hunderterschar aus Kolumbien, die auf den Papst wie auf einen Rockstar wartete. Und dann rollte er heran, der Argentinier in Rom im Papamobil, das frühe Aufstehen hatte sich gelohnt, er war uns wenige Meter nah und versprühte eine Aura, ein Charisma, eine Persönlichkeit, die man erlebt haben muss. Dieser bewegende Eindruck einer gewollten, lange geplanten Begegnung hält sich bis zum heutigen Tag.

 

Text: Ulrich J. C. Harz

 

Der Papst gilt als das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche. © pcp/istockphoto.de
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