Was ist kostbar in der Krise?

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In Krisenzeiten sind andere Dinge kostbar als im „Normalbetrieb“ – oder besser gesagt: Wir erkennen, was wirklich wichtig ist! Das zeigt uns gerade jetzt die Corona-Pandemie. Uns wird bewusst, wie kostbar Gemeinschaft ist, gegenseitiger Besuch und Einladungen, Berührungen und Umarmungen. Familie. Freunde. Gespräche von Angesicht zu Angesicht. Als Menschen sind wir Herdentiere, für die Gemeinschaft geschaffen.

Es ist für die meisten eine schmerzliche und beängstigende Erfahrung, nahestehende Menschen nicht persönlich treffen zu können. Denn die persönliche Begegnung ist kostbarer als Gold und Diamanten – das zeigt sich in Zeiten der Krise, wie wir sie gerade erleben. Deshalb ist insbesondere jetzt auch Kommunikation ein hohes Gut, denn sie ist eine Grundvoraussetzung für das Entstehen und die Aufrechterhaltung von Gemeinschaft. Dass aber Kommunikation auch zurzeit überhaupt möglich ist, verdanken wir Telefon, E-Mail & Co. – und deshalb werden diese Kommunikationsmittel, die eben noch Selbstverständlichkeiten waren, plötzlich wertvoller denn je. 

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Die Zeit ist das kostbarste Gut; man kann sie für Geld nicht kaufen.

R-E-S-P-E-C-T!

Auch Anerkennung und Respekt erleben eine Renaissance. Bisher wenig beachtete Berufsgruppen rücken in den Fokus, bekommen Applaus – wie kostbar es ist, was sie gerade leisten, wird in der Krise offenbar. Und deshalb ist Solidarität ein großes Thema. Solidarität, Rücksicht, Vertrauen, Transparenz – das sind Werte, die zwar schon immer wichtig waren, aber während der Corona-Krise stärker ins Bewusstsein rücken. „In der Krise ist deutlich geworden, dass wir ohne Werte nicht auskommen“, so Prof. Dr. Hendrik Müller, Wirtschaftsethiker an der Hochschule Fresenius in Hamburg. „Durch das vermehrte digitale Arbeiten treten sie nun sogar stärker zutage als zuvor. Für den flächendeckenden Einsatz von Homeoffice bedarf es Vertrauen, Offenheit und Flexibilität.“

Neue Prioritäten

Dieser Wertewandel ist branchenübergreifend zu beobachten: Auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff glaubt an einen länger anhaltenden Solidarisierungseffekt im Profi-Fußball – über das Ende der Corona-Krise hinaus. Prof. Müller von der Hochschule Fresenius gibt noch einen anderen Punkt zu bedenken: „Die Krise zwingt Firmen auch zum Umdenken hinsichtlich ihres Angebots. Die Menschen verzichten derzeit auf Luxusartikel und kaufen Produkte des täglichen Bedarfs, wie zum Beispiel Schutzmasken.“ Darauf habe die Modeindustrie umgehend reagiert, und Designer gestalten jetzt Masken als modisches Accessoire. Damit wären wir bei einem weiteren kostbaren Gut, das gerade jetzt wieder an Bedeutung gewinnt: Kreativität. Denn besondere Herausforderungen erfordern besondere Lösungen. Und: Was Luxus eigentlich ist, erfährt gerade eine Umdeutung. Warum? In Krisenzeiten wird Konsum bewusster betrieben. Die Entscheidung für eine Investition wird wohldurchdacht gefällt. An die Stelle unreflektierten Habenwollens tritt für viele der Wunsch nach Hochwertigkeit und Langlebigkeit. Was für Beziehungen gilt, trifft auch auf Produkte zu – dafür ist manch einer bereit, einen angemessenen Preis zu zahlen.

Immateriell oder materiell?

Bereits vor Ausbruch der Krise waren den Menschen in Deutschland sehr unterschiedliche Werte und Dinge wertvoll. Insbesondere Zeit mit der Familie hatte bereits einen hohen Stellenwert. Und generell wissen wir, dass den Deutschen im europäischen Vergleich ihr Zuhause und ihre freie Zeit am wichtigsten sind. Da nur knapp 50 % der Deutschen Wohnraum-Eigentümer sind, geht es dabei wohl generell um die vier Wände – gekauft oder gemietet –, in denen man sich häuslich eingerichtet hat. Gerade das Gut Zeit, die man zu Hause verbringen kann, gewinnt an Bedeutung. In den USA steht der Begriff „Quality Time“ bereits seit den 1970er-Jahren für die Zeit, die man der Familie widmet. Es geht dabei um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Stärkung menschlicher Beziehungen. Auch der Historiker Frank Trentmann sagt – danach befragt, was „das gute Leben“ für ihn sei – in einem Interview mit ZEIT-ONLINE: „Zeit mit der Familie zu verbringen. Zum guten Leben gehört auch ein Hund und ein See zum Schwimmen. Und Musik ist mir wichtig (…).“ Dinge also, die man nicht kaufen kann. Dass immaterielle Güter nachhaltiger für Zufriedenheit sorgen, ist eine alte Wahrheit – Vorfreu-de und schöne Erinnerungen nutzen in dieser Hinsicht mehr als ein teures Schmuckstück. Es sei denn, es handelt sich um das geerbte Armband oder die Perlenkette von der Großmutter, die nostalgisch und emotional aufgeladen eine wahre, individuelle Kostbarkeit ist – eine wertvolle Erinnerung. Auch der zu Urgroßvaters Zeiten eigens angefertigte Schreibtisch mit den gedrechselten Beinen oder der historische Bauernschrank, der einst eine Investition in den Haushalt der bäuerlichen Familie war, war damals schon kostbar und zugleich ein Statussymbol, heute für den einen oder anderen aufgrund seiner persönlichen Geschichte ein kostbares Erbstück, obwohl man vergleichbar aussehende Massenware „made in China“ im Möbelhaus für wenig Geld erstehen kann – künstliche Patina und „Used Look“ inklusive.

Nicht alles ist Gold, was glänzt

Denken wir noch weiter zurück – es gab Zeiten, da waren Kaffee und Tee kostbare Statussymbole, exotische Belege für den Reichtum ihrer Verkoster. Wer schon einmal versucht hat, auf Salz – früher auch als „weißes Gold“ bezeichnet – zu verzichten, weiß es erst richtig zu schätzen, kriegt es heutzutage aber problemlos. Überhaupt sind heute für uns viele Dinge in Hülle und Fülle vorhanden. Der Schritt von der Kostbarkeit zum Statussymbol zur Massenware für jedermann ist in vielen Bereichen längst vollzogen und im Sinne der Erreichbarkeit kostbarer Güter für möglichst viele Menschen ein wertvoller Prozess. Doch was ist uns dann heute kostbar, abgesehen von Wohnraum und Zeit?

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Kostbares [#37] oder: Was ist Ihnen lieb und teuer?


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Die ZEIT-Redakteurin Elisabeth von Thadden gibt Seminare zum „guten Leben“, in denen es sich darum dreht, was der Mensch braucht und was ihm kostbar ist. Dabei ist eine Sache immer gleich – die Fragestellung teilt sich stets in zwei Grundgedanken: ob es um messbare Güter geht oder das „nicht messbare Gute“, beispielsweise Freundschaft und Liebe. Für Aristoteles war bereits klar: Ein gutes Leben bedeute, unter Freunden selbstgenügsam tätig zu sein. Da ist es hilfreich, wenn die Kollegen gleichsam Freunde sind.

Ein anderer großer Denker, Epikur, hatte einen anderen Blick auf das Thema: Für die Menschen, denen genug stets zu wenig ist, sei sowieso nichts gut genug. Ist das so? Werden wir konkreter: Zu Epikurs Zeiten galten bestimmte Edelmetalle bereits als besonders kostbar. Wer sich goldene Accessoires leisten konnte, besaß Kostbarkeiten, mit denen er zugleich seinen Status demonstrierte. Das blieb über viele Jahrhunderte so. Ein kostbarer Ehering, der Symbol einer einzigartigen Verbindung zwischen zwei Menschen ist, besteht traditionell aus Gold. Allerdings würde es heute niemand mehr bemerken, wenn der Ring gar nicht aus echtem Gold bestünde. Was ändert das für die Kostbarkeit des Rings? Selbst wenn er aus Kupfer gefertigt ist, wird er vermutlich für die Träger von unermesslicher Kostbarkeit sein. 

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Statussymbol vs. Kostbarkeit

So vielgestaltig wie die Kostbarkeiten im Wandel der Zeit sind heute auch die Statussymbole. So gehören für 97 % der Menschen zwischen 18 und 30 Reisen zu den Selbstverständlichkeiten. Verrückte Reisen haben unter ihnen als Statussymbole längst den Neuwagen abgelöst. Der ist für ihre Großeltern immer noch Statussymbol. Die Jungen übertrumpfen sich gegenseitig mit mehreren Reisen im Jahr, je ausgefallener, desto besser – und das ist für Deutsche einfach, denn der deutsche Reisepass ist laut Global Passport Index einer der stärksten der Welt. Aber ist eine einzelne Reise bei so inflationärem Reiseverhalten noch eine Kostbarkeit? Jetzt, da viele Grenzen geschlossen sind, wird es sicher wieder zum Sehnsuchtstraum für viele. Und der Neuwagen? Rückt für einen Großteil der Eltern erstmal in weite Ferne – denn die Zeiten sind unsicher. 

Skizze von einem Berg mit einer Person oben drauf die ihre Arme in die Luft streckt
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Du bist, was du isst

Und wie sieht es mit der Generation der Eltern aus? „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ – das ist weitgehend Schnee von gestern. In den Großstädten, in denen der Wohnraum knapp wird, gibt es auch nicht mehr viele Gartenbesitzer, ergo wird auch der Garten zur Kostbarkeit. Das gilt in Corona-Zeiten mehr denn je. Wer einen Garten hat, kann grenzenlos an der frischen Luft sein, ohne auf Abstand zu achten. Der Schrebergarten war aber schon vorher wieder in. Er hat sein Spießer-Image abgelegt, bezeugt die sinnstiftende Freizeitbeschäftigung seiner Beackerer und ist zum Statussymbol avanciert. Und: die kostbare Freizeit im kostbaren Gärtchen zu verbringen ist doppelt kostbar. In diese Kategorie fällt auch „Staycation“, der Urlaub zu Hause. Vor Corona zeigte er: Ich lebe bewusst und kann es mir leisten, daheim zu bleiben. Wer diesem Ideal anhing, wird in diesem Jahr wohl besser als seine Mitmenschen mit den Reisebeschränkungen leben können.

In diesen Themenkomplex passt auch das Thema Ernährung, denn nicht nur die selbstgezogenen Biotomaten demonstrieren einen gewissen Lebensstil und damit Status, sondern generell, welchem Trend man anhängt – Low Carb, Paleo oder Clean Eating?! Wer Vater ist, trägt in gewissen Kreisen auch das zur Schau, da wird aus dem kostbaren Kind schnell zusätzlich ein Statussymbol – und wer darüber hinaus mittags seinen Kollegen einen schönen Feierabend wünscht, um Zeit mit der Familie zu verbringen, untermauert seinen prestigeträchtigen Lebensstil damit. Wir sehen: Es hat ein Umdenken stattgefunden – und eine starke Ausdifferenzierung. Generationen, aber auch gesellschaftliche Gruppen haben ihre eigenen Statussymbole. Unterstützt wird dies durch das sogenannte „hybride Konsumverhalten“: Luxus, also das, was nicht benötigt, aber ersehnt wird, wird individuell definiert und durch die positiven Auswirkungen bestimmt, die er auf den Konsumenten hat. Im Zeitalter der Krise könnte allerdings (Reise-)Freiheit zu einem kostbaren Gut für alle werden.

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Das universelle Statussymbol hat ausgedient

Es ist erst wenige Jahrzehnte her, da war noch vollkommen klar, womit man seinen Status nach außen demonstrierte: repräsentative Möbel, teure Autos, wertvoller Schmuck – in der Wirtschaftswunderzeit auch gern Leibesfülle. Das alles ist heute nicht mehr allgemein gültig, manches sogar peinlich. Edel geht immer noch, aber es muss nicht jeder die Statussymbole erkennen – es reicht, wenn die „Insider“ es tun. „Das Statussymbol gibt es genauso wenig wie den sozialen Status. Die Smartwatch bringt Anerkennung unter Fans innovativer technologischer Spielereien, lässt die Neo-Ökos jedoch kalt. Die exorbitant teure Kaffeemaschine wird überhaupt nur von anderen Liebhabern erkannt. Und nur wem ‚fair’ wichtig ist, der erkennt und schätzt faire Fashionmarken an anderen. Die neuen Statussymbole sind differenzierter, subtiler und kleinteiliger denn je. Von vergangenen Statusobjekten unterscheidet sie vor allem eins: Sie sind nicht länger universell.“  So schreibt es Lena Papasabbas auf der Website des Zukunftsinstituts, das sich der Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland verschrieben hat. Es forscht auch zum Thema Wohnen. 

Skizze Zelt
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So heißt es auf der Internetpräsenz beispielsweise im „Home Report 2019“ von Oona Horx-Strathern: „Die ‚Anywheres‘ (20–25 Prozent der Bevölkerung) sind ungebunden, urban, liberal, haben einen Universitätsabschluss, sind wenig nostalgisch, hingegen leistungsorientiert und egalitär in ihrer Einstellung zu Herkunft, Geschlecht und Gender; sie haben nur eine lockere Bindung ‚im Hinblick auf die Identifikation mit größeren Gruppen wie etwa der Nationalität; sie schätzen Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Stabilität, Gemeinschaft und Tradition‘.“ Man kann sich vorstellen, dass für diese Gruppe Zeit und Reisen kostbarer wiegen als materielle Güter. Und: Sie machen sich unabhängig vom kostbaren Wohnraum. Sind sie eine wachsende Gruppe – und bedeutet das eines Tages das Ende von „My Home is my Castle and my Status Symbol“? Die Zukunft bleibt spannend – wie werden wir wohnen, und was bedeutet unsere Wohnsituation künftig für unseren Status? Was werden wir in der Post-Corona-Krise als Kostbarkeit erachten? Kommen wir noch einmal zu Aristoteles zurück. Ihm hätte der Ansatz der „Anywheres“ wohl gefallen, war er doch der Meinung: „Das Leben besteht in der Bewegung.“

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