Architektur-Biennale Venedig 2014: Fundamentale Fragen zur Architektur

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Fundamentale Fragen zur Architektur

Die nächste Biennale wird vorbereitet

Gleich nach seiner Berufung zum Leiter der Architektur-Biennale 2014 erklärte der niederländische Architekt Rem Koolhaas, dass die von ihm kuratierte Ausstellung forschungsorientierter werden soll als die ihr vorausgegangenen. Unter dem Titel „Fundamentals“ soll die Biennale 2014 eine „Grundlagenarbeit“ leisten, „bei der die Architektur und nicht die Architekten im Mittelpunkt steht“.

Forschung wie Darstellung sollen einerseits „einen Blick auf die grundlegenden Elemente der Architektur werfen, die von jedem Architekten überall und zu jedem Zeitpunkt verwendet werden“: Wand, Boden, Decke, Fassade, Treppe, Tür und Fenster. Dabei soll gerade die Konzentration auf diese allgemeingeschichtlichen Elemente jeden Bauens die Frage beantworten, „ob wir in der Lage sind, etwas Neues über die Architektur zu entdecken“. Andererseits verpflichtete der neue Biennale-Direktor die teilnehmenden Länder, ihre Pavillons unter dem gemeinsamen Titel „Absorbing Modernity: 1914–2014″ zu präsentieren und sich dabei auf die besondere architekturgeschichtliche Entwicklung in ihren Ländern zu konzentrieren. Koolhaas zufolge gerät mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs der Beginn der Globalisierung in den Blick, in dem sich auch die Architektur zunehmend von ihrer nationalen Besonderung löst und nach einer globalen Formensprache sucht, die sich notwendig auch den Grundelementen des Bauens einprägt. Die Retrospektive auf den tiefgreifenden Umbruch der letzten hundert Jahre kann, so hofft der Leiter der Biennale, ein „frisches Verständnis für den Reichtum des grundlegenden Repertoires der Architektur ausbilden, das heute augenscheinlich so verschüttet ist“.

Ein Besuch in Köln

Seine eigene Recherche zu den „Grundlagen der Architektur“ führte Koolhaas im Frühjahr 2013 in das Kölner „Ungers Archiv für Architekturwissenschaften“ (UAA). Hier hat sein Mentor, der 2007 verstorbene Architekt Oswald Mathias Ungers, eine der bedeutendsten privaten Sammlungen historischer Architekturtraktate und kostbarer Folianten mit epochemachenden Entwürfen eingerichtet. Neben klassischen Werken zur Entstehung und Weiterentwicklung der Perspektive wie der Farbenlehre enthält diese Bibliothek seltene Ausgaben der Bücher Palladios, Piranesis und Durands sowie, allen voran, die erste gedruckte Abschrift von Vitruvs antiken „Zehn Büchern über Architektur“ aus dem Jahr 1495. Allerdings beschränkt sich die in den 1950er-Jahren begonnene Sammlung Ungers nicht nur auf Hauptwerke der Klassik, sondern umfasst darüber hinaus Bücher, die den Aufbruch und den Fortgang der Moderne begleitet und geprägt haben.Darunter findet sich ein Exemplar der 1910 erschienenen Portfolioausgabe des Wasmuth-Verlags zum Werk Frank Lloyd Wrights, ein Exemplar des raren Zeitdokuments „Das Staatliche Bauhaus in Weimar 1919–1923″ sowie gleich mehrere Veröffentlichungen der russischen Revolutions-Avantgarde, darunter El Lissitzkys Werk „Von zwei Quadraten“.

In Vorbereitung zu der unter dem Titel „Fundamentals“ stehenden Architektur-Biennale 2014 recherchierte Rem Koolhaas gemeinsam mit Studierenden in der umfangreichen Bibliothek des 2007 verstorbenen Ungers, einer der wertvollsten privaten Sammlungen von Architekturbüchern. Die Vorstandsvorsitzende des UAA, Sophia Ungers, nutzte den Besuch von Koolhaas und bat den Leiter der Biennale um einen Beitrag zu ihrer Vortragsreihe „Ex Libris“, bei der stets zwei geladene Gäste ausgewählte Bücher aus der Bibliothek des Archivs vorstellen und ihre Auswahl erläutern. Der seinem Lehrer noch heute eng verbundene Koolhaas ließ sich nicht lange bitten und lud seinerseits den Philosophen Stephan Trüby zum Ko-Referat, einen seiner engsten Mitarbeiter in der Vorbereitung der Biennale. Zur neunten Ex- Libris-Veranstaltung meldeten sich dann so viele Interessierte an, dass die räumlichen Kapazitäten des Archivs in der Müngersdorfer Belvederestraße nicht mehr ausreichten. Deshalb wurde die Zusammenkunft in das nahe gelegene „Haus ohne Eigenschaften“ verlegt, das O.M. Ungers als zweiten Wohnsitz seiner Familie entworfen und 1996 fertiggestellt hatte. Das Haus ist heute im Besitz der Dr. Speck-Literaturstiftung; als Hausherr begrüßte Dr. Reiner Speck die Gäste.

Fundamentale Fragen zur Architektur
Fundamentale Fragen zur Architektur

Absorbing Modernity: Kulturgeschichte der Neuzeit

Der wie Koolhaas an der Harvard-Universität in Cambridge lehrende Philosoph Stephan Trüby eröffnete die Doppel-Vorlesung mit seiner Deutung der im Ungers-Archiv verwahrten „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Das 1930 veröffentlichte mehrbändige Werk des Wiener Kulturhistorikers Egon Friedell gehört sicherlich zu den bedeutenden Versuchen, die Moderne und ihre Globalisierung zu verstehen. Einer der Leitbegriffe der Kulturtheorie Friedells ist der Begriff der Hypertrophie, den er der Medizin entlehnt und zum Verständnis eines der wesentlichen Momente geschichtlicher Entwicklung verwendet. Bezeichnet Hypertrophie in der Medizin eine aufgeblähte oder auswuchernde Gewebestruktur, insbesondere infolge der anormalen Vergrößerung eines Organs, verallgemeinert Friedell diesen Begriff in doppelter Weise. Hypertroph nennt er einerseits die übermäßige Ausbildung, mit der ganz unterschiedliche Gebilde über den Zusammenhang hinauswachsen, in dem sie ursprünglich nur ein funktionales Moment unter anderen waren. Hypertroph nennt er aber auch Lebewesen, deren Verhaltensspektrum in extremer Weise auf eine einzige Befähigung spezialisiert wird: „Man kann sagen, dass die Natur alle ihre Geschöpfe eigentlich nur hervorbringe, um jedes Mal zu zeigen, was ein einzelnes Organ zu leisten vermag, wenn es bis an die äußersten Grenzen seiner Raum- und Kraftentfaltung gelangt. Der Tiger ist ein ganz reißendes Gebiss, der Elefant nichts als ein riesiger Greif- und Tastrüssel, das Rind ein wandelnder Kau- und Verdaumagen, der Hund eine Witternase auf vier Füßen. Beim Menschengeschlecht wiederholt sich dieser Vorgang auf geistigem Gebiet in der Erschaffung des Genies. Jedes ist die staunenswerte Hypertrophie einer seelischen Potenz. Shakespeare ist ganz Phantasie, Goethe ganz Anschauung, ein ungeheures inneres Auge, bei Kant war, wie ausführlich gezeigt wurde, die Fähigkeit, die zu stupender Überlebensgröße entfaltet war, der theoretische Verstand, bei Bismarck: der praktische Verstand.“

In der Moderne wird die Hypertrophie Friedell zufolge zum bestimmenden Moment nahezu aller Entwicklung. Wirtschaft, Politik, Kultur hypertrophieren zu eigenständigen gesellschaftlichen Lebensbereichen, der Prozess der Individualisierung löst die traditionellen Bindungen der Verwandtschaft, Herkunft und fixen sozialen Positionen auf, in den individuellen Biographien trennen sich hypertrophe Lebensabschnitte ab, die sich zu keinem „Lebensweg“ mehr fügen. Friedell zufolge ist dieser Prozess allerdings nicht nur mit Verlusten verbunden: Am glanzvollsten wird die Produktivität hypertropher Entwicklungen sicherlich in den Künsten und bei den Künstlern sichtbar, wo sich die Schönheit und das kreative Schaffen von jeder Funktionalität abzulösen suchen. Konsequenterweise weist Friedell deshalb die These Darwins zurück, nach der die geschichtliche Entwicklung auf das „Überleben der Stärksten“ ziele: „Dass nämlich Krankheit etwas Produktives ist, diese scheinbar paradoxe Erklärung müssen wir an die Spitze unserer Untersuchungen stellen. Denn: Jede Krankheit ist eine Betriebsstörung im Organismus. Aber nur eine sehr äußerliche Betrachtungsweise wird den Begriff der Betriebsstörung ohne Weiteres unter den der Schädigung subsumieren. Auch in der Geschichte des politischen und sozialen Lebens, der Kunst, der Wissenschaft, des Glaubens sehen wir ja, dass Erschütterungen des bisherigen Gleichgewichts durchaus nicht immer unter die verderblichen Erscheinungen gerechnet werden dürfen; vielmehr ist es klar, dass jede fruchtbare Neuerung, jede wohltätige Neubildung sich nur auf dem Wege eines Umsturzes zu vollziehen vermag, einer Disgregation der Teile und Verschiebung des bisherigen Kräfteparallelogramms. Ein solcher Zustand muss, vom konservativen Standpunkt betrachtet, stets als krankhaft erscheinen. Die Ahnung, dass das Phänomen der Krankheit mit dem Geheimnis des Werdens eng verknüpft sei, war in der Menschheit zu allen Zeiten weit verbreitet.“

In seinem Vortrag zeigte Stephan Trüby, dass Prozesse der Hypertrophie auch in der Baukunst prägend waren und sind. Diente Architektur ursprünglich allein dem Schutzbedürfnis ihrer Bewohner, löste sie sich früh schon von dieser funktionalen Ein- und Unterordnung ab und ließ ihre „Fundamentals“ hypertrophieren. Gleich eingangs erklärte Trüby den Zuhörern, dass gerade Oswald Mathias Ungers sein eigenes Projekt einer vor allem anderen auf Symmetrie und Regelhaftigkeit bedachten und zuletzt romantisch-rationalen Architektur als ein Projekt gewollter Hypertrophie bezeichnet und sich dabei ganz ausdrücklich auf Friedell berufen hat. Ging es Ungers dabei um die Hypertrophie symmetrischer Proportionen und damit der ästhetischen Ordnung von Gebäuden, beschränkten andere Architekten ihre Hypertrophien auf einzelne architektonische Elemente. Als Beispiele nannte Trüby das innovative Hochschulgebäude des Tokioter Büros SANAA in Essen, bei dem das Fenster „hypertrophierte“, und interpretierte das Baseler Stellwerk von Herzog & de Meuron als Hypertrophie der Fassade.

Brandwände, Megastrukturen und Übermalungen

Nach seinem philosophischen Mitstreiter ergriff Rem Koolhaas selbst das Wort und stellte sich zunächst einmal als ehemaligen Schüler von Oswald Mathias Ungers vor. Weil er seinen Lehrer vor dem Studium an der Cornell University in Ithaca als Herausgeber der Publikationsreihe „Veröffentlichungen zur Architektur“ kennen- und schätzen gelernt hatte, legte Koolhaas seinem Vortrag zwei Ausgaben dieser Reihe zugrunde. An beiden machte er dem Publikum „die faszinierende Mischung aus Klarheit und Romantik“ deutlich, die seinen Mentor auszeichnete.Das erste Heft erschien im Wintersemester 1969 und dokumentierte eine systematische Kartierung der Berliner Brandwände und der davor befindlichen Brachen. Mit dieser Semesterübung lenkte Ungers die Aufmerksamkeit seiner Studenten auf die durch Krieg, Mauerbau und Abriss geschundene Stadt und empfahl ihnen ihre Blockstruktur als das Element, an dem eine sorgfältige architektonische wie soziale Neugestaltung ansetzen kann. Ausgangspunkt sollten allerdings nicht die repräsentativen Fassaden zur Straße, sondern die rückwärtigen Brandwände sein. Von ihnen aus, so lehrte Ungers, könne sich die moderne Architektur für ein ortsbezogenes Bauen sensibilisieren, das mit Verwitterung und Verfall die Geschichte ins Entwerfen einbezöge. Den jungen Rem Koolhaas brauchte Ungers davon nicht erst zu überzeugen: Schon als Student der Londoner Architectural Association hatte sich Koolhaas mit der geteilten Stadt auseinandergesetzt und eine Studie zur Berliner Mauer als Architektur angefertigt, die er schließlich zur Diplomarbeit erweiterte: „Niemand kann sich die Aufregung vorstellen, die mich ergriff, als ich im Sommer 1971 in Berlin das Werk von O.M. Ungers entdeckte. In einem Buchladen fand ich etwa 20 Ausgaben der „Veröffentlichungen zur Architektur“, unscheinbare, in Schwarzweiß gehaltene Publikationen, die aus seinen Seminaren an der TU Berlin hervorgegangen und ganz von der inspirierten Enge gezeichnet waren, die Ungers zum Anlass nahm, die ringsum von einer Mauer umschlossene Enklave zum privilegierten Gegenstand seiner Lehre zu machen.“

Fundamentale Fragen zur Architektur

Anhand des im Februar 1967 unter dem Titel „Schwarze Architektur“ erschienenen Heftes der „Veröffentlichungen zur Architektur“ verdeutlichte Koolhaas schließlich ein weiteres Beispiel dessen, was seine Biennale als Prozess des schöpferischen „Absorbierens“ der Moderne bearbeiten wird. O. M. Ungers hatte die Gestaltung dieses Heftes dem Wiener Künstler Arnulf Rainer überlassen, der seit 1963 ein Atelier in Berlin unterhielt. In seinen ausdrucksstark gedrängten Zeichnungen und den übermalten Fotografien von Gebäuden ging es Rainer nicht um Akte der Zerstörung, sondern um eine „plastische Überarbeitung der Stadträume und Bauten“. Mit der künstlerischen Verfremdung wollte er den angehenden Architekten einen neuen, kreativen Umgang mit den baulichen Bedingungen der geteilten Stadt und ein diesen Bedingungen angemessenes „Formungsprinzip“ näherbringen, dessen Umsetzung in konkrete Architekturvorhaben er zugleich ihrer „gestalterischen Intelligenz“ überließ.

Text: Bettina Rudhof
Bildnachweis:  Heidrun Hertel, www.heidrunhertel.de, Anja Sieber-Albers

Fundamentale Fragen zur Architektur
Die Vorstandsvorsitzende des Ungers Archiv für Architekturwissenschaften (UAA), Sophia Ungers (li.), und ihre Kollegin Anja Sieber-Albers
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