Im Bann der Größen – Der Einfluss von Maßstäben auf uns und unsere Wirklichkeit

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Auf den ersten Blick könnten das Cinderella Castle im amerikanischen Disney World und die Kathedrale Notre-Dame in Paris (vor dem Brand) nicht gegensätzlicher sein. Verspielter Comic-Kitsch trifft auf altehrwürdige Monumental-Historie. Auf den zweiten Blick jedoch verbindet sie eine besondere Gemeinsamkeit: Schloss und Sakralbau profitieren beide von Gestaltungsprinzipien, die ihre Größenwirkung beim Betrachter exponentiell steigern. Beide wurden mit einem besonderen Blick für Maßstäblichkeit konzipiert. Ihr spezieller Aufbau und die verwendeten Gliederungsstrukturen sorgen dafür, dass sie in unseren Augen an Größe gewinnen. Sie modifizieren also unsere dimensionale Wahrnehmung.

Ein Kraftakt? Nein, aber eine komplexe Korrelation.

Wer an Maßstäbe denkt, dem fallen häufig zuerst rigorose Zahlenverhältnisse ein: 1:1, 1:7… aber Maßstäbe prägen so viel mehr als mathematische Beziehungen. Im architektonischen Kontext können sie als wahrgenommene und bewertete Größenverhältnisse, die aus komplizierten Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt entstehen, beschrieben werden. Denn Größenmaße werden niemals isoliert, sondern immer im Kontext rezipiert. Der Betrachter erlebt im Prozess der Wahrnehmung die tatsächlichen Maße in komplexen Verhältnissen, die realen Maße werden somit zu relativen. Auch ihre Bewertung basiert keineswegs auf absoluten Einzelgrößen.

Bis zu einem gewissen Grad haben wir unsere Wahrnehmung selbst in der Hand. Als Vernunftbegabte und Freidenker kreieren wir unsere eigenen Dimensionen aufgrund unserer Vorstellungen, Erfahrungen und Werte. Diese mentalen Referenzen justieren wir tagtäglich. Dennoch sind wir geprägt von überindividuellen Sehgewohnheiten, epochalen und kulturellen Strukturen sowie menschlichen Prozessen der Kognition.

 

Beispielsweise folgen wir unbewusst den Gestaltbildungsgesetzen, einer Reihe von allgemein gültigen Prinzipien der Wahrnehmung.

Dieses Phänomen kann man im Museum der Illusionen in Wien live erleben und sich und seine Wahrnehmung bewusst auf die Probe stellen.
Unsere Wahrnehmung wird entscheidend von den sogenannten Gestaltbildungsgesetzen beeinflusst.

Unsere Wahrnehmung wird entscheidend von den sogenannten Gestaltbildungsgesetzen beeinflusst. Dieses Phänomen kann man im Museum der Illusionen in Wien live erleben und sich und seine Wahrnehmung bewusst auf die Probe stellen.

Wir sehen ähnliche Objekte als zusammengehörig, bilden automatisch Gruppen aus naheliegenden gleichen Elementen und bevorzugen geschlossene Strukturen.
Auch können wir nicht aus unserer Haut: Größeneigenschaften nehmen wir immer in Bezug zu uns selbst und unseren Körpermaßen wahr. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen es, grundlegende Prinzipien für die Wahrnehmung und Bewertung von Gebäudegrößen abzuleiten, die bei architektonischen Gestaltungsfragen wichtige Denkanstöße liefern. Will ich „monumental markant“ oder „einnehmend menschlich“ gestalten? Eindrücke wie diese können durch die Abstimmung von Gebäude- und Elementgrößen präzise gefördert werden. Die Architektin Silke Voßkötter hat sich eingehend mit diesen Beziehungen beschäftigt und drei hauptsächliche Relationen für die Wahrnehmung von Gebäudegrößen identifiziert.

  • der Mensch und das Gebäude 
  • das Gebäude und seine Elemente 
  • das Gebäude und seine Umgebung

Diese Bezugsgrößen, in Beziehung zueinander gesetzt und mit unseren eigenen mentalen Referenzen abgeglichen, bestimmen maßgeblich, welche situationsspezifische Größenwirkung ein Gebäude auf uns hat. Unser Sehvermögen, unsere Körperlichkeit und unsere Erfahrungen haben direkten Einfluss darauf, wie wir Gebäude wahrnehmen. Unser Blickfeld ist begrenzt, je nach Betrachtungswinkel nehmen wir deshalb nur Details, das gesamte Gebäude oder aber aus größerer Entfernung das Gebäude in seiner Umgebung wahr. Historische Gebäude haben aus diesem Grund oft einen Vorplatz, damit ein Betrachtungswinkel möglich wird, bei dem das Gebäude das ganze Blickfeld ausfüllt – das fördert die visuelle Dominanz.

Der Triumphbogen in Paris entfaltet erst dann seine volle Größenwirkung, wenn seine einzelnen Elemente wie z. B. die riesigen Figurreliefs in den direkten Vergleich mit Personen, Autos oder anderen menschlichen Bezugssgrößen treten. Foto: Nikada / istockphoto.com

WINKEL WUCHS UND WISSEN

Aber nicht nur ‚Augen-Blicke’ bestimmen, was wir sehen. Unser gesamter Körper beeinflusst unsere Wahrnehmung, denn er bildet das Zentrum unseres Wahrnehmungsraumes. Alles, was wir sehen, setzen wir in Bezug zu ihm. Er ist unser Vergleichsmaß, auch wenn wir eher Details wie Fenster und Türen als ein ganzes Gebäude erfolgreich in ein Verhältnis zu ihm bringen können. Bedingt durch ihn überschätzen wir Vertikalen. Große Längen und Breiten können wir uns durch Entlanglaufen zugänglich machen, Höhen haben immer etwas Unbestimmbares. Ihre Wirkung auf uns ist deshalb emotionaler und tiefgehender.

Ohne Erfahrungen würden wir fixpunktlos durchs Leben treiben. Das betrifft im gleichen Maße unsere Wahrnehmung. Gespeicherte Größenerfahrungen sind Anker für unsere Sinneseindrücke und wir haben einen großen Fundus dieser Größenvorstellungen. Schuppen, Leuchtturm, Kathedrale? Was immer wir vor uns haben, wir vergleichen es mit der Erinnerung an bereits erlebte Gebäude. Neben dem Typus selbst zählen hier vor allem auch konkrete Details wie Treppenstufen oder Mauerwerksziegel, von deren Größe wir eine ziemlich genaue Vorstellung entwickelt haben. Das Erkennen solcher architektonischen Elemente erleichtert es uns, tatsächliche Gebäudegrößen zu ermitteln. Verwende ich also bautypologisch übliche Größen in einem Bauprojekt, kann ich zur Verständlichkeit des Gebäudes beitragen und bestehende Erwartungen erfüllen – das resultiert in einer positiven Erfahrung für den Betrachter. Genauso kann ich aber durch ihre Verfremdung oder das Entfernen von Bezugsgrößen den Betrachter überraschen.

Wer schon einmal unter dem Triumphbogen in Paris gestanden hat, weiß, wie klein man sich plötzlich im Vergleich zu dessen riesigen Figurreliefs fühlt.

 

 

CINDERELLA TRICKS

Beim Betrachten eines Gebäudes setzen wir aber nicht nur uns selbst zu ihm, sondern auch seine einzelnen Teile in Bezug zueinander. Dieser Gliederungsmaßstab beeinflusst ganz wesentlich unsere Reaktion auf die Gebäudegröße. Eins der Grundprinzipien der Wahrnehmung ist, dass wir mehrfach gegliederte Bauwerke in ihrer Größe überschätzen. Deshalb erscheint uns beispielsweise die fassadentechnisch stark gegliederte Notre-Dame deutlich größer als der Triumphbogen, der bedeutend weniger Gliederungselemente aufweist – und doch nicht wesentlich kleiner als die Kathedrale ist. Dieses Prinzip lässt sich noch erweitern: Verkleinere ich die Gliederungselemente zum oberen Abschluss eines Gebäudes, kann ich die Höhenwirkung zusätzlich steigern. Deshalb nehmen beim Cinderella Castle in Florida alle Elemente pro Etage um etwa ein Drittel ihrer Größe ab. Die Erbauer haben zudem zusätzlich getrickst, verrät Silke Voßkötter:

„Die Gliederungselemente werden nicht nur zum oberen Abschluss kleiner, sie sind auch kleiner als ihre bautypologischen Vorgänger. Die Schlossfenster beginnen bei einer Größe von nur 30 cm und schrumpfen bis auf 15 cm.“Damit ein in der Nähe stehender Mensch die Fenster nicht als ‚Zwergenausblicke’ entlarvt, beginnen sie erst auf der dritten Ebene.

Die Erbauer des Cinderella Castle haben sich unsere Wahrnehmung sprinzipien zu Nutze gemacht und verschiedenste bauliche Maßnahmen angewendet, um das Schloss größer wirken zu lassen als es ist. Foto: Clément Bardot, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Magic_Kingdom,_Disney_World.jpg

Nicht nur die Verkleinerung, auch die Übergröße von Elementen kann ein wirksames Mittel zur Beeinflussung der Größenwahrnehmung sein. Werden Großformen betont, wirkt das Gebäude gewaltig und monumental, werden hingegen Details betont oder gar „geschrumpft“, wird die Intimität gesteigert und der Betrachter fühlt sich bedeutender. Diese betonte Feinstruktur findet sich oft bei Outlet-Centern, die mit Markisen, Fensterläden, Ornamenten und Laternen gespickt wurden, um gemütlich und einladend zu wirken.   

Neben den Elementen an sich zählt auch ihre Anordnung. Hierarchische Gliederungen, bei denen kleinere Fassadenteile zu Gruppen zusammengefasst Unterordnungen bilden, helfen dem Betrachter, visuell komplexe Strukturen zu verarbeiten und Größenvergleiche anzustellen. Das steigert die Größenwirkung. Gleichrangige, sehr reduzierte Gliederungen können Ordnung ausstrahlen, aber schnell auch in die Monotonie abdriften – eine Gratwanderung ohne klar definierten Schwellenwert.

 

DIE NOTRE-DAME ENTTÄUSCHUNG

Treten wir zurück und lassen den Blick wandern, rückt unvermeidlich auch das Umfeld eines Gebäudes in unsere Aufmerksamkeit. Das kann der Moment sein, in dem alle vorherigen Eindrücke wie weggewischt sind. Denn Referenzmaße der Umgebung können die Größenwirkung eines Gebäudes in Sekundenschnelle relativieren. Bäume, Nebengebäude, aber auch optische Leitlinien, die wir mit Hilfe von Dachkanten und Simsen aufbauen, treten in ein komplexes, formales Bezugssystem. Sie helfen uns dabei, das Gebäude einzuordnen und im Zweifelsfall bautypologisch untypische Elemente zu erkennen. 

Die Größenwirkung der beeindruckenden Frontansicht Notre-Dames bröckelt, nähert man sich ihr nicht direkt, sondern aus der Entfernung mit gleichzeitigem Blick auf die Kaserne de la Cité.

Nähert man sich Notre-Dame mit gleichzeitigem Blick auf die Kaserne de la Cité, wirkt die riesige Kathedrale plötzlich gar nicht mehr so erhaben groß. Foto: narvikk / istockphoto.com

Die trügerische Linienführung beim Vergleich der beiden Gebäude schwächt die Wirkung der Kathedrale. In Relation zum Polizeigebäude erscheint sie nur unwesentlich größer, die Erwartungen an ihre Monumentalität und Großartigkeit werden so nicht erfüllt.  

Hier zeigt sich, wie nah Wahrnehmung und Bewertung beieinanderliegen und sich gegenseitig beeinflussen. Reale Größen, die der Betrachter als Maßstäbe wahrnimmt, werden mit ideellen Inhalten verbunden. Sie werden durch Assoziationsprozesse mit gespeichertem Hintergrundwissen verknüpft und erhalten dadurch eine Bedeutung. Passen interne und externe Schemata übereinander, ist die Wirkung positiv. Silke Voßkötter hat analog zu den drei Wahrnehmungsrelationen, drei relevante Bewertungsebenen identifiziert:

  • die (formal)ästhetische Bewertung
  • die funktionsbezogene Bewertung
  • die symbolische Bewertung

 

WIE IM MÄRCHEN?

Ästhetisch bewerten wir vor allem für uns nachvollziehbare Strukturen positiv, funktionsbezogen urteilen wir über die sinnvolle Ausrichtung eines Gebäudes auf seine Nutzung. Einen besonders starken Einfluss hat die symbolische Bewertung. Gebäudemaßstäbe sind zeit ihres Lebens materielle Manifestationen von Idealen und Werthaltungen. Dass die visuelle Dominanz einer Kathedrale wie Notre-Dame als Zeichen für die Macht der Kirche stehen sollte, ist leicht zu deuten. Die Architekten der Walt-Disney-Vergnügungsparks setzten stattdessen auf kulturell geprägte Positiv-Konnotationen:

Das Cinderella Castle orientiert sich bewusst an der Formensprache von Schlössern wie Neuschwanstein, um Assoziationen zu diesen märchenhaften Bauten zu wecken. Es ist jedoch weit vom Status einer Nachahmung entfernt, um die Negativwirkung einer womöglich ‚schlechten Kopie’ zu vermeiden.    

Symbolische Größenbewertungen prägen das Umweltbild des Betrachters immens, weiß Silke Voßkötter: „Sie stärken bestehende Größenschemata oder regen zur Bildung neuer an. Auf diese Weise beeinflussen Größengestaltungen zukünftige Bewertungsprozesse, festigen gesellschaftliche Werte oder initiieren gemeinsam mit anderen Faktoren ihren Wandel.“ Größengestaltung ist eben mehr als nur ein Zahlenspiel. Umso wichtiger ist es, bauliche Größenverhältnisse und die dadurch vermittelten Werte sehr differenziert zu betrachten.

Das Cinderella Castle erinnert stark an Neuschwanstein, ohne jedoch dessen Silhouette offensichtlich zu duplizieren. Foto: Rachel Davis /Unsplash

Weder der Ansatz ‚größer, höher, weiter’ noch das Plädoyer ‚Einheit ist alles’ können einer nuancierten Dimensionskonzeption Genüge tun. Denn Gebäude, die jeden Maßstab und bekannte Grenzen sprengen, können fremd und unzugänglich wirken, aber ebenso beeindrucken und faszinieren. Großbauten mögen Gefahr laufen, sich gegenseitig die Show zu stehlen, sie können jedoch auch bewusst gepaart fesselnde Straßenfluchten bilden und Stadtsilhouetten eindrucksvoll transformieren. Auch bei der Betrachtung des Gebäudes selbst können sowohl Reizüberflutung als auch Reizarmut beide auf ihre Weise frustrieren. Es gilt also, stimmige Größenverhältnisse zu schaffen und Maßstäbe zu finden, die Alt und Neu fruchtbar verbinden – dann können sogar Cinderella-Träume neben Sakral-Historie bestehen.

Aus der Reihe:

Dimensionen oder: Zahl vs. Gefühl – was zählt?


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Über Maßstäbe in der Architektur:

Der vorliegende Artikel basiert auf dem Fachbuch „Maßstäbe in der Architektur“ von Dr. Silke Voßkötter. Die Autorin ist Head of Architecture im Büro bkp kolde kollegen GmbH. Das informative Werk, das zugleich die Doktorarbeit Voßkötters ist, beleuchtet die Entstehung und Bedeutung vom architektonischen Maßstabskonzept mit zahlreichen Beispielen.

Voßkötter, Silke: Maßstäbe der Architektur. Eine Untersuchung zur Größenwahrnehmung und Größenbewertung von Gebäuden. Marburg, Tectum Wissenschaftsverlag, 2010. ISBN: 978-3828823020

 

Hinweis aus der Redaktion: Dieser Artikel ist vor dem Brand der Notre-Dame entstanden. 

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