FREESPACE als Alleskönner – ein Gespräch mit GRAFT Architekten

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Die BerührungsPUNKTE-Redaktion ist im eisekalten Berlin mit den GRAFT Gründungspartnern Lars Krückeberg, Wolfram Putz und Thomas Willemeit zum Gespräch verabredet – bei unserem Eintreffen, (Büro GRAFT Berlin, Nähe Hauptbahnhof, Hinterhof, 4. Etage) befinden sie sich noch mit Marianne Birthler und weiteren Biennale-Team-Mitgliedern im wöchentlichen Biennale-Jour-Fixe.

Anlass des mit BerührungsPUNKTE verabredeten Gesprächs war natürlich ihre Ernennung zum Kuratorenteam für den Deutschen Beitrag auf der kommenden Architektur-Biennale in Venedig. Unter dem Titel „Unbuilding Walls“ werden die drei Architekten mit der ehemaligen Beauftragten für Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, den Beitrag konzeptionieren und für Mai in Venedig umsetzen. Zusammen mit dem übergreifenden Thema „Freespace“, unter dem die Architektinnen von Grafton die gesamte Biennale kuratieren, ergab sich ein breites Spektrum an Gesprächsansätzen. Und: GRAFT und BerührungsPUNKTE feiern 2018 ihr 20-jähriges Jubiläum. Wenn das mal keine schönen Berührungspunkte sind!

 

Was war eure erste Assoziation, euer erster Gedanke, als ihr von dem Oberthema FREESPACE für die Architektur-Biennale 2018 in Venedig erfahren habt?

Wolfram Putz: Das Thema steht in einer tollen Kontinuität zur letzten Biennale. Aravena hatte damals einen guten neuen Themenkomplex aufgemacht, der Architektur in ihrer ganzheitlichen Verantwortung und ihrer komplexen gesellschaftlichen Dimension zeigte. Das war ein guter Start. Mit den beiden Grafton-Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley Mc Namara ist gewährleistet, dass wir nicht wieder nach einer kleinen Verirrung zum Formalismus und einer klassischen Fachdebatte zurückkehren, sondern in dem Zeitgeist bleiben, der nun mit Freespace sehr offen formuliert wurde. Die beiden Kuratorinnen sind Frauen, was ich sehr begrüße, sie sind ein Paar und sie stehen nicht wie Popstars in erster Reihe, sondern heben sich hervor durch eine subtile, sublime Architektur- und Kuratorenqualität, die nicht auf Knalleffekte aus ist.

Lars Krückeberg: Das, was bei Aravena etwas unkonkreter war und die Ausstellung vielleicht nicht zu hundert Prozent zusammengehalten hat, scheint jetzt nachgeholt zu werden. Welche konkreten gesellschaftlichen Phänomene führen denn zu welchen ganz erkennbaren stadträumlichen und architektonischen Gesten? Wie verhalten sich zwischenmenschliche Rituale gegenüber realen, bestehenden oder neugebauten Räumen? Solche Fragen erwarte ich – und vielleicht das eine oder andere beantwortende Statement.

26.10.2017 Berlin/Mitte Auf dem Bild: Marianne Birthler und GRAFT Architekten, Kuratoren des deutschen Pavillons auf der 16. Architekturbiennale Venedig 2018. Foto: Pablo Castagnola
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Was bedeutet für euch persönlich Freiraum? 

Thomas Willemeit: Ich verbinde mit dem Begriff Freiraum immer sofort auch Freiheit. In der Architektur geht es immer genau darum: um die geistige, emotionale, kreative Freiheit und die Definition, die Beachtung und Bewahrung von Freiraum. Es geht immer wieder darum, verschiedene Antworten zu finden auf die stets gleich gestellte Frage. Nie geht es darum, das final Gültige, Richtige zu suchen, sondern immer, das bisschen mehr zu untersuchen, das über die Beantwortung der Frage hinausgeht. Wir müssen verstehen, dass es eine letztgültige Wahrheit nicht gibt. Es sind die darüber hinausgehenden Möglichkeiten, die Varianten, die heterogene Mentalität unserer Lebenswelt und die Verschiedenartigkeit unserer Kulturen, die wir erkennen, anerkennen und zu schätzen lernen müssen.

WP: Ich mag den Begriff sehr. Er wirkt entgrenzend und zeigt in erster Linie ein Potenzial auf. Freiraum beschreibt nicht, wie wir uns zu verhalten haben, sondern dass wir Potenziale zu verwalten haben. Ich denke auch, dass es notwendig ist, den Begriff Freiraum an Freiheit zu koppeln in der heutigen Zeit. Beide implizieren ein Vertrauen in die Protagonisten der Architektur – ganz gleich ob in der Programmierungsschablone des Grundrisses oder auf der Metaebene der eigenen Gestaltung. Sie lassen es zu, dass man die Zügel einfach mal aus der Hand gibt, eine Wand weglässt, einen atmenden anstelle eines starren Rahmens schafft, ein Abnehmen anstelle eines Zunehmens an Regeln forciert. Und die beiden Grafton-Architektinnen gehen das Ganze schön entspannt an. Sie sind nicht die Jeanne d‘Arcs der Architekturszene, sie verkörpern einfach ihre Definition von Freiraum in ihren Gebäuden, in ihren Thesen, in ihrer Lehre, durch ihre Persönlichkeiten.

Wie definiert ihr euren Verantwortungsbereich, dem ihr bezüglich eures architektonischen Verständnisses von Freiraum nachkommen solltet? 

LK: Wir sind der Meinung, dass wir alle an jedem neuen Morgen aufstehen und etwas untersuchen können, das wir noch nicht kennen, oder einer Frage nachgehen, die wir für uns noch nicht beantwortet haben. Das hat etwas mit einer bestimmten Haltung zu tun, mit der man sich Dingen widmet, mit der man untereinander kommuniziert, mit der man durchs Leben geht. 

WP: Und der Lebensabschnitt spielt dabei natürlich eine Rolle. An welcher Stelle der Lebenslinie steht man gerade? Was liegt hinter einem, was für Ansprüche hat man an das Jetzt und an das Morgen? Ich persönlich habe mich ganz am Anfang unserer Karriere, während des Vorspiels sozusagen, am freiesten gefühlt. Wir hatten nichts zu verlieren, waren reputationslos, geschichtslos, rebellisch und provokant.

Das Mittelspiel empfand ich als sehr schwierig. Wir trugen schon Verantwortung für Mitarbeiter, hatten aber keinen Puffer hinsichtlich Manpower und Geld. Heute haben wir glücklicherweise einen guten Erfolg, der nicht übermorgen einfach wieder vergehen wird. Also können wir einfach mal investieren in die Beschäftigung mit einem Freiraum, der uns wichtig erscheint, können die ganze Firma mitnehmen in einen risikoreichen Exkurs – ohne existenzielle Sorgen. Grundsätzlich ist Freiraum aber kein gemütlicher Begriff – da weht der Wind, da kann es warm und kalt sein – da ist eben das richtige Leben.

TW: Wir haben jetzt, nach so vielen Jahren, einen ganz ansehnlichen Rucksack voll an heterogenen, widersprüchlichen und wertvollen Erfahrungen auf dem Rücken. Und wir haben mittlerweile eine Flughöhe erreicht, in der wir eine gewisse Audienz haben. Wir werden gehört, unsere Thesen werden diskutiert, aber grundsätzlich ernst genommen. Irgendwie zahlt das auch wieder auf die Tiefe der Freiheit ein. Größere Hörbarkeit, bewusstere Wahrnehmung, mehr gesellschaftliche und mediale Präsenz – gleich größere Verantwortung.

WP: Mir selbst passiert es immer wieder, dass ich mich durch die zunehmende Lebenserfahrung in Worst-Case-Anekdoten eingemauert fühle. Es ist schwierig, sich den inneren, geistigen Freiraum, eine gewisse Naivität, die Risikobereitschaft zu bewahren. Sehr häufig muss ich gegen einen inneren Reflex angehen, der mich dazu bringen will, bestimmte, in der Vergangenheit gefühlt schon einmal gegangene Richtungen nicht noch einmal einzuschlagen. Mir ist in dem Moment nicht bewusst, dass die Richtung vielleicht gleiche Parameter hat, aber wir uns als Architekten und auch die Umgebung sich verändert haben, und dieser Richtung jetzt mit ganz anderem Rüstzeug, unter ganz anderen Voraussetzungen gefolgt werden kann.

Welches Themenspektrum erwartet ihr in Venedig? Von wo bis wohin wird wohl der Freespace-Bogen gespannt werden?

LK: Wir erwarten, angefangen bei ganz klassischen architektonischen Analysen von Häusern, dem einfachen Neu-Denken von Lobby oder Opernhaus-Foyer über neue Modelle des Arbeitens bis hin zu gesellschaftlichen Abhandlungen auch krasse politische Statements und extreme, utopistische, formalistische Beiträge. Die Klammer „Freespace“ ist ein Alleskönner. Man weiß, wo die Kuratorinnen herkommen und was sie an dem Thema interessiert – für den Rest gilt: 50 Prozent aller Teilnehmer bzw. aller Beiträge werden mit dem Thema nichts zu tun haben.

Unbuilding Walls – umgebaute, abgerissene, zurückgebaute, nicht gebaute, reale, geistige Mauern im Jetzt und in der Vergangenheit, mit und ohne Schatten … was habt ihr vor im deutschen Pavillon?

TW: Der Begriff „unbuilding“ ist auf einer Architektur-Biennale, auf der es ja um „Buildings“ geht, schon mal ungewöhnlich. Für uns war der Auslöser eine bauliche Debatte in Berlin, in der es darum geht, etwas zu entfernen. Uns interessiert, was an der Stelle entsteht, entstehen kann, an der im Vorfeld etwas weggenommen wurde. Ganz konkret war der Auslöser natürlich das Thema rund um die Berliner Mauer – und die Zeitenwende: Am 05.02.2018 stand die Berliner Mauer genauso lange nicht mehr, wie sie damals existierte: 28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage. Nun ging es uns stark darum, genau hinzuschauen, wie sich dieses Wegnehmen der Grenze vollzogen hat, wie planlos das teilweise vonstatten ging. Was wir jetzt sehen, entlang der ehemaligen Mauer, ist eine heterogene Perlenkette, ein faszinierendes Spektrum aus einer gesellschaftlichen und städtebaulichen Debatte.  Deswegen steht da ganz am Anfang erst mal das Wegnehmen, das „unbuildung“ und die Entdeckung des neuen Freiraums, einer neuen (Ober-)Fläche.

WP:  Zunächst einmal war das ein Thema, auf das wir latent Lust hatten. Berlin ist unsere Wahlheimat und wir leben in einer Zeit, in der Mauern als ideologische Instrumente bedauerlicherweise wieder in Mode kommen. Ausgangspunkt unseres Beitrags ist also dieses Grundstück in Berlin, in Deutschland vor 28 Jahren. Hier lässt sich ablesen, wie wir Deutschen baulich mit unserer Geschichte umgehen. Diese geschichtsträchtigen Orte haben eine Bedeutungsebene mehr als andere und die Architekturen entsprechend auch – ganz gleich ob es eine gebaute oder eine ungebaute ist. Eine Lücke ist auch eine Haltung, ein Statement, manchmal sogar noch prägender oder aussagekräftiger als eine Bebauung. Den Umgang mit der Fläche der funktionslosen Mauer ab November 1989 kann man als therapeutische Sitzung ansehen. Was sind die verschiedenen Phasen in der Bewältigung von Schmerz?

 

Wann lässt die Wut nur ein Niederreißen, ein Vernichten und Vergessenwollen zu, wann kann wieder hingeschaut werden, ohne dass Wunden aufreißen?  

LK: Die Zeitenwende ist eine Art Zugangstür, die uns und auch jedem Besucher in Venedig und jedem, der unserem Thema begegnet, einen persönlichen und emotionalen Einstieg ermöglicht. Die meisten Deutschen werden sich erinnern an die Zeit der Mauer, wissen genau, was sie an dem geschichtsträchtigen Donnerstag, dem 9. November 1989, taten, haben Erinnerungen an die Zeit hinter der Mauer als ehemaliger Bürger der DDR oder vielleicht an einen immer ein bisschen spektakulären und angsteinflößenden Grenzübertritt als „Wessie“. Einmal mehr wird klar, dass ein Erinnerungsprozess stets dynamisch erfolgt und dass, wenn Architektur Ausdruck dieses Veränderungsprozesses wird, sie nicht unbedingt immer die ewig richtige Lösung darstellt.

WP: Schlussendlich kann man wohl sagen, dass Architektur auch für ein Laienpublikum eine große Projektionsfläche bietet – solange die geführten Debatten nicht auf einem zu hohen akademischen Niveau geführt werden. Und das haben wir auf keinen Fall vor.

 

Marianne Birthler ist Mitglied eures Biennale-Teams. Warum sie? 

TW:  Ohne sie würde es nicht gehen. Sie ist grandios. Sie ist eine Frau, sie kommt aus dem Osten, sie hat als sympathische Persönlichkeit und eloquente Gesprächspartnerin einen unschätzbaren Wert für uns. Sie hat die „Wende“ und die Entwicklung dorthin hautnah mitbekommen, sie war 13 Jahre alt, als die Mauer errichtet wurde. Sie war von 2000 bis 2011 Beauftragte für die Stasi-Unterlagen – außerdem Volkskammer- und Bundestagsabgeordnete und Landesministerin. Marianne Birthler ist nicht verbittert und nicht missionarisch unterwegs. Sehr schnell war für uns klar, dass man so ein gesellschaftlich relevantes Thema, das viel mit öffentlichem Raum zu tun hat, unmöglich aus rein architektonischer Perspektive angehen kann. Täte man das, würde man vollkommen scheitern.

Was erwartet uns also ab Mai im Deutschen Pavillon in den Giardini? Welche Rolle wird die Historie des 1909 errichteten und 1938 von den Nationalsozialisten in Deutschland umgebauten Pavillons spielen?

LK: Völlig außer Acht lassen kann man bei der Konzeption einer solchen Ausstellung das zu bespielende Gebäude sicher nicht. Ohne dieser Zeitenwende eine zu große Bedeutung zukommen zu lassen: Wenn man die 28 Jahre und 2 Monate noch einmal mehr zurückrechnet, landet man im Jahr 1933 … auf diese Tatsache werden wir sicher nicht direkt Bezug nehmen, aber sie wird eine im Verborgenen zu lesende Bezugslinie sein.

WP: Unser Ausstellungsansatz umfasst drei Bereiche: ein emotionaler Einstieg mit der Frage „Was war die deutsche Teilung?“, eine Architektur-Ausstellung, in der wir ca. 25 Projekte vorstellen, und schließlich eine journalistische Dokumentation von sechs Mauern weltweit: Israel, Korea,
Nordirland, Mexiko, Zypern und Spanien.

Die Besucher werden vielleicht am Anfang der Ausstellung das Thema Mauer sehen – wenn sie durch sind, werden sie merken, dass es um das Nicht-Dasein von Mauern geht, dass auch, wenn eine Mauer fällt, das ursprünglich dahinter Verborgene oder die noch existierenden Mauern in den Köpfen der Menschen betrachtet werden müssen. Die gebaute Umwelt an sich hat immer nur eine zweitrangige Relevanz – wichtig ist der Betrachtungskontext einer bestimmten Geschichte.

 

20 Jahre Graft. Was bedeutet das für euch?

TW: Wir hatten nie einen Masterplan. Rückwirkend erklärt sich das Leben nach vorn. Man lebt es intuitiv und mit Neugierde, aber betreibt es nicht mit Logik. Ein wirklich großes Geschenk ist, dass wir uns ausgerechnet in so einem „Jubeljahr“ mit Unbuilding Walls beschäftigen dürfen – das ist schon ein passender Umstand. Wenn wir zurückblicken, gibt es viele persönliche Schnittstellen mit dieser Mauer und der ehemaligen DDR. Die Transitstrecke Hannover–Berlin führte damals über Braunschweig. Hier haben wir studiert und uns so ziemlich genau zu der Zeit des Mauerfalls kennengelernt. Wenn die Aufregung um die Architektur-Biennale etwas abgenommen hat, werden wir vielleicht einen Kongress initiieren. Und feiern werden wir natürlich auch. Immer mal wieder zwischendurch und demnächst in eurem BerührungsPUNKTE-Meetingpoint: im Palazzo Contarini Polignac am Canal Grande.

Danke! Wir freuen uns auf euch!

 

www.graftlab.de 
www.unbuildingwalls.de

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