Kirchen: Aus Papier oder im Mauerstreifen

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In welchen Räumen finden wir spirituelle Heimat? Die Institution Kirche scheint – gemessen an der rückläufigen Mitgliederzahl – gesellschaftlich mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Als Ort in der Stadt aber – als Gebäude und als Raum – hat sie seit jeher ihren Stellenwert behauptet. Und betrachtet man die Vielzahl neuer Sakralbauten und ihre außerordentlichen gestalterischen Qualitäten, dann erkennt man, dass diese Räume den Menschen – ob gläubig oder nicht – immer noch ein Gefühl von Heimat vermitteln.

Kirchen: Aus Papier oder im Mauerstreifen

Die europäische Architekturgeschichte ist nachhaltig geprägt durch die Geschichte des Sakralbaus – von den Tempeln und Altären in Griechenland und Kleinasien über die Römische Antike, die Entwicklung der frühchristlichen Basilika bis zu den Meisterwerken der Gotik, der Renaissance und des Barock. Dabei ist die Kathedrale weit mehr, als nur Versammlungsraum und Heimat einer Gemeinde. Sie ist zugleich Symbol für die Macht ihrer Erbauer und darüber hinaus Wahrzeichen der Stadt – und das ist sie bis heute geblieben. Bis heute bestimmen die Kirchen mit ihren Türmen die Silhouette der meisten europäischen Städte. Bis heute sind Kirchen maßstabsprägend. Sie definieren weithin sichtbar Orte, Plätze und Gegenden. Sie stiften Identität und markieren Heimat auf ganz unterschiedliche Weise.

Kirchen: Aus Papier oder im Mauerstreifen

Sehnsucht nach Heimat

Die Frauenkirche in Dresden ist das beste Beispiel dafür, dass Kirche mehr bedeutet, als nur Heimat für eine Gemeinde zu sein. Diese Kirche ist vielmehr ein Symbol, das für eine ganze Stadt so etwas wie Heimat repräsentiert. Der berühmte Barockbau mit seinem Kuppelkreuz in 93 Metern Höhe trug mit zu Dresdens Ruf als »Elbflorenz« bei. Doch nur rund 200 Jahre gehörte die Frauenkirche zur Silhouette der Altstadt. Nach den Bombenangriffen im Februar 1945 prägten knapp 50 Jahre lang die Ruine und ein riesiger Trümmerhaufen der ausgebrannten und eingestürzten Kirche das Bild der Innenstadt. Und ebenso lange keimte in der Stadt die Hoffnung auf einen Wiederaufbau des Gotteshauses.

Dem nach der Wende beschlossenen Wiederaufbau ging eine kontrovers geführte Diskussion darüber voraus, ob es zulässig sei, gerade hier nostalgisch der Vergangenheit zu huldigen und die Spuren dieses eindrucksvollen Mahnmals zu beseitigen. Doch die Sehnsucht nach diesem Symbol für Heimat war schließlich stärker als die zerstörerische Kraft des Krieges und auch stärker als der Widerstand gegen die umstrittene Nachbildung der barocken Kirche des Architekten George Bährs. Und so läuft der Wiederaufbau emotional und finanziell getragen nicht nur von Dresdnern, sondern auch von vielen Besuchern dieser Stadt. Spätestens zum 800. Stadtjubiläum im Jahr 2006 ist die Einweihung des aus Ruinen erstandenen Kirchenbauwerks geplant.

Heimgefunden

Ebenfalls in Dresden wurde unlängst ein weiterer Sakralbau fertiggestellt: Die jüdische Gemeinde in Dresden hat wieder eine Heimat. 1938 war die 100 Jahre zuvor von Gottfried Semper erbaute Synagoge an den Brühlschen Terrassen gebrandschatzt und abgetragen worden. Die mit dem Neubau der Synagoge beauftragten Saarbrücker Architekten Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch verweigern sich dem in Dresden so weit verbreiteten Rekonstruktionswahn. Sie setzen mit ihrer selbtstbewussten zeitgenössischen Architektur ein deutliches Zeichen für das Selbstverständnis einer modernen jüdischen Gemeinde. Auf einem erhöhten Plateau stehen sich Synagoge und Gemeindehaus als autonome aber aufeinander bezogene Baukörper gegenüber. Eine leichte spiralförmige Drehung der aufeinander geschichteten Steinlagen verleiht der monolithisch wirkenden Synagoge eine subtile Dynamik und einen prägnanten skulpturalen Ausdruck. In dem ummauerten Hof zwischen Gemeindehaus und Synagoge mahnt die mit Bruchglas gefüllte Leerstelle der zerstörten Semper-Synagoge an die »Kristallnacht« vom 9. November 1938.

Heimatlos

Auch die Kapelle der Versöhnung im ehemaligen Mauerstreifen an der Bernauer Straße in Berlin steht an einem Ort mit einer dramatischen Geschichte: Hier stand eine neogotische Kirche: ursprünglich mitten im Leben zwischen den Berliner Stadtteilen Wedding und Mitte – seit 1961 mitten im Todesstreifen zwischen Westberlin und der Hauptstadt der DDR. Erst 1985, also nur fünf Jahre vor der Öffnung der Mauer, wurde die Kirche von DDR-Grenzern gesprengt, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die jungen Berliner Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth haben nun an diesem Ort, der noch immer wie ödes Niemandsland wirkt und die Wunde der Teilung deutlich erkennen lässt, mit einer schlichten Kapelle ein eindrucksvolles Symbol geschaffen: ein Symbol zur Erinnerung an die Barbarei der Teilung und die damit verbundenen menschlichen Katastrophen.

Hinter einem Schirm aus hölzernen Lamellen schaffen sie einen Ort der Konzentration. Das Oval des Raumes wird umschlossen von gestampften Lehmwänden. Kein Fenster stellt den Bezug zum Außenraum her. Licht fällt nur durch die Oberlichter in der Decke. Das einzige Fenster der Kapelle befindet sich im Fußboden und legt den Blick auf die 1961 mit Betonsteinen vermauerte Kellertür der ursprünglichen Versöhnungskirche frei. Dieser Ort, der lange Jahre keine Heimat bot, ist nun zu einer Heimat geworden für weit mehr Menschen, als nur die benachbarten Anwohner. Es ist die Heimat ungezählter individueller Schicksale und Erinnerungen.

Heimat für einen Tag

Nur gute Erinnerungen werden die Hochzeitspaare und ihre Gäste mit nach Hause nehmen, für die die Kirche des Windes in Japan von Tadao Ando zur Heimat für einen Tag wird. Diese Hochzeitskapelle gehört zum Rokko Oriental Hotel. Sie ist eine Kirche ohne Gemeinde. Ausschließlich für Hochzeitszeremonien bestimmt, bietet die Kapelle einen feierlichen Rahmen für einen einmaligen Besuch. Der windgeschützte Zugang zur Kirche ist maßgeblich durch die Bewegung des Windes geprägt. Das Sonnenlicht projeziert temporäre Bilder auf die Screens aus opaken Glasscheiben, die den Weg flankieren. Jeder Hochzeitsgast nimmt sein eigenes Bild mit nach Hause. Dieses Motiv flüchtiger Bilder verweist möglicherweise darauf, dass nichts beständiger ist als die Launen der Natur – eine subtile, und zugleich feierliche Ermahnung an diejenigen, die sich hier auf den Weg machen, den Bund fürs Leben zu schließen. Der Architekt Tadao Ando beschreibt seine Entwurfsidee mit den Worten: »Dinge wie Licht und Wind besitzen nur dann eine Bedeutung, wenn man sie in das Innere eines Hauses bringt, so dass sie dort von der Außenwelt isoliert sind. Diese isolierten Fragmente des Lichts und der Natur symbolisieren die ganze Welt der Natur.«

Heimat auf Zeit

Das Verhältnis von Mensch und Natur ist auch entwurfsbestimmend für den Christus-Pavillon auf der Expo 2000 in Hannover. Die Hamburger Architekten von Gerkan Marg und Partner umgeben hier einen Andachtsraum mit einem als gläserne Vitrine konzipierten Wandelgang. Darin sind verschiedenste Elemente geschichtet, die die Natur und unsere Zivilisation repräsentieren. Dieser als Stahlskelettbau elementierte Kirchenraum war für die Besucher der Weltausstellung in Hannover nur eine Heimat auf Zeit. Er wurde anschließend demontiert und im thüringischen Volkenroda wieder aufgestellt, wo der moderne Andachtsraum nun die historischen Gebäude der Klosteranlage ergänzt.

Provisorische Heimat

Eine temporäre Kirche ganz anderer Art baute der japanische Architekt Shigeru Ban. Er errichtete in der japanischen Stadt Kobe eine ebenso einfache wie eindrucksvolle Kirche aus Papier. Sie sollte der Gemeinde, deren Gotteshaus während des verheerenden Erdbebens im Jahr 1995 zerstört wurde, als provisorische Heimat dienen. Diesem Haus, das nie dauerhaft Heimat werden sollte, wiederfuhr jedoch das gleiche Schicksal wie so vielen Provisorien: sie steht noch viele Jahre danach und ist inzwischen zu einer Ikone zeitgenössischer Architektur geworden.

Neue Heimat

Kaum einer würde den Abriss einer Kirche befürworten, selbst wenn es keine Gemeinde mehr gibt. Stattdessen werden immer öfter Ideen entwickelt, wie sich die heiligen Hallen anders nutzen lassen. In den Kellergewölben der im 2. Weltkrieg zerstörten Nikolaikirche in Hamburg hat eine Weinhandlung ihre neue Heimat gefunden. In England wurden schon Kirchenräume zu öffentlichen Bibliotheken umgenutzt. Und in Neubrandenburg wurde die Marienkirche zu einer Konzerthalle ausgebaut. 

Diese 1298 im Stil der norddeutschen Backsteingotik errichtete Hallenkirche wurde in den letzten Tagen des 2. Weltkrieges schwer zerstört. Schon zu DDR-Zeiten wurde damit begonnen, die Ruine zu einem kulturellen Mehrzweckraum umzugestalten. Doch das 1952 begonnene Projekt konnte in 38 Jahren bis zum Ende der DDR nicht fertiggestellt werden. 1996 lobte die Stadt schließlich einen internationalen Wettbewerb aus und beauftragte anschließend den finnischen Architekten Pekka Salminen damit, einen großzügigen Konzertsaal in dem historischen Gemäuer einzurichten. Dieser wird nun zu einer neuen Heimat für Musikfreunde weit über Neubrandenburg hinaus.

Heimat mit Zukunft

Die vorgestellten Beispiele repräsentieren unterschiedliche Facetten eines vielgestaltigen Heimatbegriffs. Sie lassen erkennen, dass Heimat viel mehr ist als nur ein Haus oder ein Ort. Heimat ist die geistige Projektion in einen Ort. Sie ist stets geprägt von ganz persönlichen, subjektiven Empfindungen und Erinnerungen. Die Kirche hat in diesem Zusammenhang etwas verbindendes. Ob Bergkapelle, Dorfkirche oder Kathedrale – eines ist allen gemeinsam: Sie können als Gebäude und als Ort auch zum Symbol für Heimat werden. Die gestalterische Vielfalt der neuen Sakralräume ist Abbild einer pluralistischen Gesellschaft, die neue Sachlichkeit – gepaart mit einer neuen Sinnlichkeit – zugleich Zeichen dafür, dass die Kirche auch wiedererkannt wird als Heimat für Besinnung, für Konzentration und Kontemplation.

Heimat für Stille, Heimat für Gebet, Heimat für Musik und für Begegnung – jenseits der allgemeinen Reizüberflutung und der lauten Stimmungen unserer geschäftigen Welt: Ein einzigartiger Ort mit einer besonderen, spirituellen und inspirierenden Qualität, die nur Sakralbauten bieten können.

Text: Jan R. Krause (Architekturvermittler und Freier Autor, Berlin)

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