Knigge und Respekt: Heute noch aktuell?

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Es gibt scheinbar Menschen, die im Wortsinne „anstandslos“ durchs Leben kommen, ohne sich einen Deut um die simpelsten Regeln des höflichen Zusammenlebens zu scheren. Nicht nur der derzeitige US-Präsident macht zweifelhafte Komplimente und weiß nicht, wem er wann (und wo) die Hand hinstrecken soll. Zahlreiche Schauspieler*innen sind für ihr rüpelhaftes Verhalten bekannt – so bezeichnete US-Schauspieler Alec Baldwin seine eigene, 12-jährige Tochter als Schwein (was weit über schlichte Unhöflichkeit hinausgeht). Der „Pop-Titan aus Tötensen“ Dieter Bohlen erklärte einem Kandidaten seiner Castingshow, er habe eine „Ausstrahlung wie eine elektrische Gummiwurst“ (was einer gewissen Kreativität nicht entbehrt). Und Frankreichs raufboldiges Enfant terrible Gérard Depardieu uriniert auch mal mitten im Flugzeug, wenn ihm danach ist, sagt aber fairerweise von sich selbst: „Ich bin ein Monster!“ – zwar in einem anderen Zusammenhang, passt aber auch hier …

Da nun diese Personen im öffentlichen Rampenlicht stehen und Klappern zum Handwerk – in diesem Fall peinliche Auftritte zum Marketing – gehören, sind sie sicher nicht repräsentativ für die Gesellschaften der westlichen Zivilisation. Oder doch? Wer zum Thema Höflichkeiten, Benimmregeln etc. recherchiert, stößt schnell auf diverse Internetseiten, die helfen sollen, mit unhöflichen Menschen umzugehen. Da raten zwei offenbar ihren Konfirmationsanzügen kaum entwachsene Jungunternehmer zu mehr Empathie und Gespräch, während „Wikihow“ empfiehlt, zunächst festzustellen, ob das respektlose Verhalten des Gegenübers unbeabsichtigt und unpersönlich, unbeabsichtigt, aber dennoch persönlich, absichtlich, aber unpersönlich oder gar bewusst und persönlich ist (womit die meisten von uns ad hoc überfordert sein dürften und die Situation längst passé, bis man zu einem Schluss gelangt ist). Zudem erscheinen auf dem Büchermarkt immer neue „Benimm-Regelwerke“. Das deutet darauf hin, dass es Bedarf gibt. Und wirft die Frage auf: Was ist das Minimum an gutem Benehmen, das ein Mensch an den Tag legen sollte?

Darüber hat sich auch schon der kluge Denker Arthur Schopenhauer seinerzeit ausgiebig Gedanken gemacht und kam unter anderem zu der Erkenntnis: „Höflichkeit ist wie ein Luftkissen. Es mag wohl nichts drin sein, aber sie mildert die Stöße des Lebens.“ Gutes Benehmen als „sozialer Schmierstoff“ also. Aber was ist gutes Benehmen eigentlich?

Schopenhauer erzählt dazu die folgende Geschichte: „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wenn nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte.“ (Arthur Schopenhauer: „Der Mensch – ein geselliges Lebewesen“)

Es ist nicht verwunderlich, dass es jede Menge Websites gibt, die nach Deutschland kommenden Menschen die hier angebrachten Regeln erklären – wie es ebenso viele solcher Plattformen gibt, die Deutschen erklären, wie sie sich im Ausland zu benehmen haben. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Regeln ist schier unüberschaubar. Kommen nun viele Kulturen zusammen, die nach unterschiedlichen Regeln leben, scheint ein kleinster gemeinsamer Nenner für den Umgang miteinander umso wichtiger. Wie kann das gelingen? Und muss es gleich Knigge-konform sein? Wer erwartet schon genaue Kenntnis davon, an welcher Seite der Dame der Gentleman eine bestimmte Lokalität betritt oder welches Besteck zu welcher Spezialität konveniert? Beginnen wir doch einfach mit rücksichtsvollem Verhalten – und zwar gemäß folgender „Weisheit“ aus den USA: „Sei höflich gegenüber jedermann: Nicht weil der Partner eine Lady oder ein Gentleman ist, sondern weil Du selbst eine Lady oder ein Gentleman bist.“

Es geht also nicht um das stumpfe Befolgen unzeitgemäßer Normen. Dagegen stemmten sich schon die 68er, aus deren Zeit das geflügelte Wort „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“ stammt. Gelassen ausgesprochen von Fritz Teufel vor Gericht, der mit diesen Worten auf die Aufforderung reagierte, sich zu erheben – und damit diese Regel und den damit zum Ausdruck gebrachten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit infrage stellte. Geht es schlicht um Respekt den Mitmenschen gegenüber, hat das allerdings nichts mit Spießertum zu tun. Einfach das zu tun, was man selbst erwartet, reicht meist schon aus. Dem Nachfolgenden die Tür aufzuhalten, egal ob Mann oder Frau, sollte beispielsweise selbstverständlich sein. Genauso wie das anschließende „Danke“ des anderen. Den Egoisten unter uns sei gesagt: Gutes Benehmen erzeugt positive Reaktionen, die dem eigenen Ego schmeicheln, was gute Manieren ebenso selbstlos wie eigennützig macht. Es ist also ganz leicht: Das Minimum an Höflichkeit sollte ein respektvoller Umgang miteinander sein. Aufklärer Jean-Jaques Rousseau sagte dazu:

 

„Es ist viel wertvoller, stets den Respekt der Menschen als eigentlich ihre Bewunderung zu haben.“

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